Wohnen als Sprungbrett: Seit 2015 vermittelt « 83integriert » private Unterkünfte für Geflüchtete

In Konstanz entstand 2015 die Integrationskampagne 83 - Konstanz integriert, die es sich zur Aufgabe machte, anerkannte Flüchtlinge (im Sinne der Genfer Konvention) aus den Gemeinschaftsunterkünften herauszuholen und in privat vermieteten Wohnraum zu vermitteln. Keine einfache Aufgabe in einer Stadt mit einem so angespannten Wohnungsmarkt wie Konstanz! Nichtsdestotrotz: Die Initiative besteht bis heute und konnte sich dank der Einrichtung einer festen Stelle professionalisieren. Im Interview spricht einer der Gründer, was die Gruppe in der Anfangsphase bewegte und was aus der Initiative über die Jahre geworden ist.

Ort und Datum des Interviews: Konstanz, 29.6.2021

2015: Kunstaktionen organisieren oder Wohnraum vermitteln?

Es war so eine Gruppe, die was zusammen machen wollte. Wir saßen so 2015 zusammen und haben uns überlegt, was könnten wir denn beitragen, um in der Situation zu helfen? Also, jeder fand die Situation eigentlich scheiße. Erst haben wir gedacht ‚Machen wir Kunst!‘, weil einige von uns eher aus dieser Gestaltungsecke kommen, irgendeine Kunstaktion. Dann haben wir gedacht, 'Ja gut, die hilft ja nur uns, da fühlen wir uns gut, aber keinem einzigen in so einer Turnhalle nutzt das was. Wir müssen etwas Konkretes machen'. Und dann haben wir einfach analysiert und gesagt, na ja, welche Bereiche sind denn eigentlich in Deutschland gut versorgt oder gut abgedeckt. Was macht das Leben aus? Arbeit, Freizeit, Wohnen. Arbeit ist eigentlich gut organisiert durch Jobcenter, Agentur für Arbeit und so weiter. Das machen auch ganz viele andere Gruppen. Und dann haben wir gedacht: ‚Naja, Wohnen ist schon ein Drittel des Lebens, und das ist einfach nicht für Neuankömmlinge organisiert, weil die Struktur existiert halt einfach nicht.‘

Ein Tausendstel von 83.000 sind 83

Konstanzer Fasnacht, 2016 (Bild: 83integriert)

In Konstanz heißt es allgemein, dass die Wohnraumknappheit groß ist. Aber wie könnten wir dafür sorgen, dass wenigstens a) die Aufmerksamkeit für die Situation steigt und b) den Leuten ganz konkret geholfen wird? Aus der Turnhalle raus oder aus dem Zelt raus, irgendwohin. Und daher kommt auch der Name des Vereins, der ja 83 heißt, weil zu der damaligen Zeit hatte Konstanz 83.000 Einwohner. Und wir wollten auch die Situation ein bisschen deeskalieren, weil medial ging da ja schon das Gerücht von der Flüchtlingskrise, dem Überschwemmen und dieser gesamte Gigantismus auch in der Sprache los, wie riesig dieses Problem sei. Dabei wurden jetzt zum Beispiel konkret nach Konstanz, ja nur knapp 800 Leute verlegt, das ist im nicht relevanten Bereich eigentlich. Sowas muss man organisiert kriegen. Und deswegen haben wir auch gesagt: „Na ja, wir sind das Projekt 83, wir wollen 83 Zimmer finden“. Erst einmal als Anfang und 83 Zimmer würde ja heißen bei 83.000, dass nur jeder tausendste Einwohner ein Zimmer freimachen muss oder zur Verfügung stellen sollte. Dann hätten wir schon zehn Prozent des gesamten Flüchtlingsankommens privat untergebracht und eigentlich direkt in die Integration geschickt. Und wir sagen auch immer Wohnen ist halt ein unglaubliches Sprungbrett in die Gesellschaft, weil man hat Nachbarn, man ist dezentral untergebracht, man hat Anknüpfungspunkte.

Zimmersuche mit Post-it’s auf Klingelkästen

Wir waren vier Gründer. Und aus dieser Vierergruppe ist dann in den ersten zwei Monaten eine Sechzehnergruppe geworden, für die wir ganz konkret Leute rekrutiert haben für Aufgaben, die wir brauchen für unsere ganzen Veranstaltungen, für unsere Werbemaßnahmen. Wir haben zum Beispiel mal das gesamte Musikerviertel, jeden Klingelkasten mit einem Post-it angeklebt: ‚Wenn Sie Wohnraum haben – wir suchen ein Zimmer pro Tausend – melden Sie sich.’ Dann sind zehn Studenten und wir einfach nachts drei Stunden, und jeder hatte ein Planquadrat und hat dann die Dinger angeklebt, um einfach wieder Aufmerksamkeit zu generieren. Und da sind dann auch ein paar Zimmer tatsächlich gekommen. Und das war schon am Anfang eine ganz intensive Arbeit. Also, die vier Gründer haben wirklich fast Vollzeit daran gearbeitet, eben wie in einem Start-up, locker acht bis neun Wochen Vollzeit.

Mit einer Werbe-Kampagne rein in die Stadtgesellschaft

83-Kampagne im Konstanzer Stadtraum, 2015/16 (Bild: 83integriert)

Unsere gesamte Außendarstellung war auf den Vermieter ausgerichtet. Und das war auch so ein zweiter Punkt, den wir in der Gründungsphase immer wieder diskutiert haben: eines unserer Vereinsziele ist, dass wir auch die Diskussion über Zuzug über Alt-Konstanzer, Neu-Konstanzer beeinflussen wollten in der Stadtgesellschaft und auch verändern. Und das war uns ein Anliegen, dass wir das versuchen, ganz lokal, ganz regional sozusagen. Deswegen ist auch die Kampagne großteils im Dialekt geführt, um mal einfach zu sagen: ‚Nee, schaut mal, das ist jetzt hier unser kleines Städtchen mit unserem kleinen Thema. Und das müssen wir hinkriegen. Und das kriegen wir auch hin.’ So. Ob da jetzt irgendwie der Obama mit dem Putin, das ist nicht unser Thema. Unser Thema ist hier, eine Turnhalle. Da sind Leute drin, schaut euch die an, die haben eine schwierige Geschichte, sind aber total nette Leute. Gebt denen eine Chance, weil die haben die verdient und gebt denen ein Zimmer und glaubt an die. Und dann funktioniert das auch. Nein, man muss das deeskalieren, und das war uns eben wichtig. Und auch unsere Meinung ins Feld zu führen, dass wir gesagt haben: Hey, positiv! Man muss die Chancen in Situationen sehen und nicht immer nur die Gefahren.

Hey, zsamme gohts bessr

Foto-Kampagne, 2015/16 (Bild: 83integriert)

Das ist ja immer schwierig für Institutionen, sich zu positionieren. Das funktioniert besser mit einem Anknüpfungspunkt eines nicht-politischen Vereins, wo man sagt: „Hey, zsamme gohts besser“. Kannst du dafür stehen? Ja? Dann halte dieses Schild in die Kamera, mach ein Foto von dir. Mehr ist es nicht. Wir zeigen nur, dass du solidarisch denkst. Und das gibt natürlich auf der einen Seite ganz gute Aufmerksamkeit. Aber auf der anderen Seite sendet das ein Signal in ganz viele Ebenen der Gesellschaft. Offensichtlich sind hier die entscheidenden Leute, der Großteil der Bevölkerung, die Arbeitgeber, die Arbeitnehmer, ein breiter Blumenstrauß aus allen Gesellschaftsschichten finden das gut, dass den Geflüchteten geholfen wird. Und ich glaube – ham wir so auch das Feedback gekriegt –, dass das schon so ein bisschen auch teilweise die Stimmung beeinflusst haben könnte, in der Stadt. Und deswegen sind wir halt in den öffentlichen Raum gegangen, haben gesagt diese Zahl 83 ist unser Symbol, weil daraus leitet sich alles ab. Hey, es sind 83 Menschen, das wird man ja wohl schaffen, die hier unterzubringen. Das heißt ein Zimmer pro Tausend.

Gelungenes Matching

Die zweite Säule des Projekts ist tatsächlich dieser soziologische oder sozio-pädagogische Blick, wie kriegt man Vermieter und Mieter gut zusammen gematcht oder wie kann man die gut aussuchen, dass die gut zueinander passen. Und wir haben immer auch von Anfang an gesagt, man muss das immer als Bereicherung sehen, also wenn man gemeinsam wohnt und diesen kulturellen Kontext jetzt erst einmal in den Hintergrund stellen, sondern wenn man sich sympathisch ist, dann kann man auch gut miteinander auskommen. Und deswegen versuchen wir doch die Leute so zusammenzubringen, dass man zum Beispiel Handwerker zu Handwerker oder jemand, der gerne Schach spielt, mit jemand zusammenbringt, der gerne Schach spielt, damit es Anknüpfungspunkte gibt. So und das machen wir ganz intensiv bis heute, dass wir lange Interviews mit Vermietern und Mietern führen, damit wir ungefähr wissen, wer vor uns sitzt. Wir fragen immer: „Was können Sie sich gar nicht vorstellen? Und was können sie sich gut vorstellen?“ Und dann versuchen wir Dinge zusammenzubringen, die gut zueinander passen und die irgendwie nachhaltig funktionieren könnten. Und das hat auch sehr gut geklappt. Klar gibt es viele Vermieter, die halt einfach irgend’ne kleine Wohnung, die sie haben, vermieten. Und dann hat man da keinen Kontakt. Aber wir haben eigentlich hauptsächlich tatsächlich Wohnen im Haus, Wohnen in der Familie, Wohnen in der Wohnung, gemeinsames Wohnen, vermittelt.

Dezentrales Wohnen beschleunigt Integration

Am meisten Vorteile hat es natürlich für die geflüchteten Menschen. Wir können jetzt schon ganz gut absehen, weil wir haben noch immer so Kontakt zu 30, 40, 50 unserer Leute, die wir vermittelt haben, bei manchen fester, bei manchen weniger. Und man kann einfach sagen, das ist ein Integrationsbeschleuniger, die sind alle steil gegangen, die privat gewohnt haben. Es gab praktisch keine Probleme, also unter 216 Leuten sprechen wir immer von zwei oder maximal drei, die gescheitert sind, was nicht unbedingt immer an den Geflüchteten hängt, aber es hat einfach nicht funktioniert, ja. Und das ist natürlich ne marginale Zahl mit 216 und alle anderen sind tatsächlich, behaupte ich mal, haben ihre Kollegen, die noch in Heimen wohnen. Da kann man’s halt direkt vergleichen, weil es waren oft Cousins mit denselben Voraussetzungen, die im selben Boot gekommen sind, über den selben Weg. Die einen haben halt eine Familie über uns gefunden, die anderen eben nicht. Allein schon der Level an Deutsch ist extrem unterschiedlich. Die Leute, die privat wohnen, sprechen sehr gut Deutsch, haben Kontakt, wissen, wie das hier läuft, sind meistens schon in der Berufsausbildung, haben die abgeschlossen oder studieren. Sie sind richtig angekommen, zahlen auch schon Steuern. Ja, sie sind also überhaupt gar nicht mehr für irgendwen irgendeine theoretische Belastung, sie sind einfach da. Und andere, die das rein staatliche System durchlaufen sind, würde ich sagen, sind einfach ein bis zwei, wenn nicht sogar drei Jahre hinterher, so von der Entwicklung, die stattfinden könnte. Und das finde ich schon als Vergleich extrem. 

Viele Vermieter*innen schätzen die Begleitung durchs Projekt

Gleichzeitig die Leute, bei denen die Geflüchteten wohnen, haben auch was gekriegt. Die kennen jetzt eine andere Perspektive. Sie wissen wirklich, was zum Beispiel in Syrien, Afghanistan die Themen sind, oder in Eritrea. Sie begegnen einfach Anderem. Ich sage immer dazu: "Bleiben Sie neugierig, Sie werden da tolle Erfahrungen machen." Und das ist für beide bereichernd. Und es ist auch oft, dass man sich hilft. Also dass ältere Leute dann jemand wieder im Haus haben, der dann halt mal einkaufen geht oder mal guckt, dass der Schnee weggeschippt wird. Und so weiter. Also da gibt es viele, für beide Seiten interessante Dinge, die da passieren. Und deswegen haben wir auch eine relativ starke Wiedervermietungsquote, also Leute, die einmal über uns vermietet haben, vermieten eigentlich immer wieder über uns, weil sie eben diese Begleitung schätzen, aber auch den Austausch, und wissen, dass wir uns auch kümmern. Also wir begleiten eben Mietverhältnisse am Anfang auch mal. Das hat jetzt eben nix damit zu tun, weil wir denken, 'ah die armen Flüchtlinge sind defizitär, die muss man irgendwie noch begleiten', sondern es gibt eben mit Bürokratie mit dem ganzen Papierkram, bis man halt mal eingezogen ist, vieles, was man einem Vermieter auch abnehmen kann. Das schätzen die als Service einfach. Sie wissen, da ist jemand, wenn es mal Gesprächsbedarf gibt, der da irgendwie die Ansprache übernimmt.

Nach 30 Jahren Nichtstun: 2015 als Zäsur

Wohnheim für Geflüchtete in der Steinstraße, Konstanz (Bild: R. Gilyan)

Es gibt ja diese Steinstraße hier in Konstanz, wo ein Flüchtlingsheim ist, und ich hab zum Abitur, ja mit 18, das ist also jetzt mal locker 30 Jahre her, habe ich eine Fotogeschichte gemacht über einen somalischen Geflüchteten in der Steinstraße. Und als ich dann wieder in der Zeitung angefangen habe zu lesen, dass die wieder in diese vergammelte Steinstraße kommen, dass sich da immer noch nix getan hat, dass sie immer noch nicht wissen, ob sie einen Aufenthalt kriegen oder eine Bildungschance oder sonst irgendetwas, das schon wieder die Idioten am Zaun stehen und rumpöbeln, da hat’s mich wirklich gelupft, weil ich mir gedacht hab: 'Man hat 30 Jahre Zeit gehabt und hat nichts getan, weil der Status quo praktisch wirklich unverändert war.' Und zum Glück war 2015, also in der Rückbetrachtung, ich hab wirklich die Mehrheit der Bevölkerung gesehen, die einfach bereit war zu helfen.

Nach der medialen Aufmerksamkeitswelle stabile Engagementstrukturen schaffen

Ganz viel Schwund ist dann passiert, als das Thema aus der Öffentlichkeit verschwunden ist. Und wir hatten eigentlich am meisten Schwund von Leuten, die uns im weiteren Umfeld geholfen haben, in dem Moment, als das nicht mehr so präsent war, das Thema, 2016, Mitte oder so, war‘s so langsam verschwunden aus der medialen Öffentlichkeit. Da sind uns auch so ein bißchen die Leute dann abhanden gekommen. Aber da waren wir zum Glück schon so verfestigt, dass das auch weiterhin funktioniert hat. Und wir haben schon immer ganz viele Unterstützer, die halt sagen: "Okay, ich helfe dir gerne bei dieser einen Aktion, und da komme ich dann den ganzen Tag. Aber ich kann halt jetzt nicht jede Woche irgendwas machen." Wir versuchen jetzt tatsächlich mehr Leute zu finden, die sich langfristig binden wollen. So wo man einfach sagen kann: ‚Also wir haben jetzt Patenschaften – light, mittel, intensiv – definiert, damit die Leute wissen, was auf sie zukommt.‘ Und light ist halt einfach so eine Stunde im Monat, einfach mal jemanden treffen, bißchen austauschen, wenn es ein Problem gibt, vielleicht etwas helfen. Mittel ist so eine Stunde pro Woche, und intensiv ist einfach zweimal pro Woche zwei Stunden so, richtig an der Hand nehmen. Mein Ziel ist immer, sage ich: Also wenn eine Wohnung vermietet wird, muss man zumindest mal zehn Sekunden an uns gedacht haben, einfach nur als Alternative, ob es dann was ist oder nicht.

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