Hier im Osten gibt es richtig viel Engagement

Vor mehr als 30 Jahren kam der Erzähler für einen Studienaufenthalt kurz nach dem Mauerfall nach Thüringen. Seit vielen Jahren engagiert er sich aktiv im Weimarer Ausländerbeirat, den er mitbegründet hat. Darüber hinaus hat er maßgeblich den Aufbau ostdeutscher Netzwerke migrantischer Vereine und Verbände wie Migranetz Thüringen und DaMOst vorangetrieben. Im Interview betont er die zentrale Rolle, die Migrant*innenorganisationen bei der Aufnahme und Begleitung von Geflüchteten spielen, sowie für das allgemeine Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft.

Ort und Datum des Interviews: Weimar, 18.02.2022

Wie ist es dazu gekommen, dass ich mich engagiere?

Ja, wenn man selbst etwas erlebt und Unterstützung erfahren hat, verspürt man oft den Wunsch, diese Hilfe auch anderen zukommen zu lassen: Im Jahr 1990 kam ich kurz nach der Wende nach Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt sprach ich kein einziges Wort Deutsch. Mein Zug machte in Leipzig Endstation, und ich musste umsteigen, obwohl ich mich überhaupt nicht auskannte. Ich versuchte, auf Englisch nach dem Weg zu fragen, erhielt jedoch keine Antwort. Schließlich sah ich zwei Personen mit dunkler Hautfarbe auf der Straße und sprach sie auf Englisch an. Zu meiner Erleichterung konnten sie Englisch und waren äußerst nett und hilfsbereit. Unterhalten haben sie sich miteinander auf Arabisch – meiner Muttersprache. Es stellte sich heraus, dass sie aus dem Sudan kamen, und wir tauschten uns schließlich auf Arabisch aus. Sie führten mich zu einem jungen Mann, der zufällig aus derselben Stadt wie ich stammte – ein wahrer Glücksfall. Er schrieb mir auf Deutsch einen Zettel, den ich zeigen sollte, falls ich auf meiner Weiterreise Hilfe benötigte. Mit diesem Zettel ging ich zum Schaffner, der mich zu meinem Zug brachte. Nach über 32 Stunden Reise erreichte ich schließlich mein Ziel in Sachsen, wo ich einen Deutschintensivkurs absolvierte. Die bereits anwesenden Studenten, die etwas Deutsch konnten, halfen den Neuankömmlingen wie mir und zeigten uns, wie alles funktionierte. Das war von unschätzbarem Wert. Nach drei Monaten hatten wir die deutsche Sprache bereits recht gut erlernt und konnten nun auch anderen helfen. Während meines Studiums in Thüringen kamen immer wieder neue ausländische Studenten, denen wir, die bereits länger dort waren, ebenfalls Unterstützung anboten.

Als der Ausländerbeirat gegründet wurde

Im Jahr 2000 haben wir in Weimar den Ausländerbeirat gegründet, und seit 2006 bin ich aktiv daran beteiligt. Der Ausländerbeirat spiegelt die Vielfalt der Gesellschaft in unserer Stadt wider, in der etwa zehn Prozent der Einwohner migrantische Gruppen repräsentieren, unabhängig davon, ob sie einen deutschen Pass besitzen oder nicht. Jeder wählt seine Vertreter, und am Ende entsteht eine ausgewogene Mischung an Repräsentanten. Obwohl der Ausländerbeirat im Stadtrat bis heute kein Mitspracherecht hat, können wir unsere Anliegen über den Oberbürgermeister oder andere Mitglieder des Stadtrats vorbringen. Derzeit besteht der Ausländerbeirat aus sieben Mitgliedern, die jeweils aus einem anderen Land stammen. Wir haben Mitglieder aus arabischen, russischen und asiatischen Ländern wie China, einen Armenier, einen Türken, einen Australier und eine Person aus den USA. Trotz der vielfältigen Herkunft arbeiten wir alle eng zusammen, um das Leben der Migrantinnen und Migranten in unserer Stadt zu verbessern. 

Internationales Fest: Jeder fühlt sich als Gastgeber und auch als Gast

Plakat Neujahrsfest 2024

Wir, als Ausländerbeirat, sind aktiv in der Organisation zahlreicher Bildungs- und Kulturveranstaltungen sowie im sozialen Bereich. Seit 2006 veranstalten wir hier in Weimar ein großes Fest. Es begann als eine spontane Idee: Da am 6. Januar im russischsprachigen Raum Weihnachten gefeiert wird, beschlossen wir, eine kleine Feier für diejenigen zu organisieren, die an diesem Tag Weihnachten feiern. Jeder brachte etwas mit, und wir erwarteten etwa 30 bis 40 Gäste. Überraschenderweise kamen jedoch ungefähr 200 Menschen. Im folgenden Jahr organisierten wir das Fest erneut, und es kamen über 400 Menschen. Daraufhin beschlossen wir, das Fest zu einer Tradition zu machen, die jedes Jahr um den 6. Januar herum stattfindet. Vor zwei Jahren feierten wir das fünfzehnte Jubiläum des Festes – die letzten beiden Jahre mussten wir leider aufgrund von Corona pausieren. Beim letzten Mal waren rund 1800 Menschen dabei. Das Fest wird von allen unterstützt, unabhängig von ihrer Herkunft. Jeder trägt dazu bei, und es ist das beste Fest, nicht nur in Thüringen, sondern deutschlandweit, weil es so viele Menschen unterschiedlicher Hintergründe zusammenbringt und für eine tolle Stimmung sorgt. Obwohl so viele Menschen zusammenkommen, hatten wir bisher keine Probleme. Jeder fühlt sich sowohl als Gastgeber als auch als Gast willkommen – das ist das Schönste an diesem Fest. Zusätzlich organisieren wir Straßenfeste, bei denen Menschen aus verschiedenen Ländern ihre Kulturen präsentieren, sowie interkulturelle Wanderungen. Es ist wichtig, Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen, da der Alltag leider oft nicht genügend Gelegenheiten bietet.

Wir dienen als Brücke zwischen Geflüchteten und der Stadtverwaltung

Zu Beginn, etwa 2014/2015, als immer mehr Geflüchtete nach Weimar und Umgebung kamen, haben wir eine Versammlung in einem Saal organisiert, zu der auch die Stadtspitze eingeladen war. Dort sollten die Geflüchteten uns ihre Probleme und Bedürfnisse mitteilen. Die große Anzahl an Ankommenden war für Deutschland und insbesondere für die Stadt Weimar neu und anfangs war die Stadt etwas überfordert. Es war klar, dass wir diese Herausforderung gemeinsam bewältigen mussten. Die Stadt Weimar hat uns intensiv in diese Arbeit eingebunden, sodass wir eine stabile Verbindung zwischen der Stadt und den Geflüchteten darstellten. Über mehrere Jahre hinweg haben wir eng mit der Stadt zusammengearbeitet.

Besuche in Gemeinschaftsunterkünften: Erklären und Vermitteln

Seit 2014 besuchen wir regelmäßig Geflüchtetenunterkünfte hier in Weimar und Umgebung (manchmal auch die Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Thüringen in Suhl) und erkundigen uns nach Bedarfen und Möglichkeiten der Unterstützung. Bis heute bieten wir regelmäßige Beratung in Form von Kaffeenachmittagen an. Menschen, die aus anderen Ländern kommen, sind am Anfang oft komplett orientierungslos. Wir suchen nach Wegen, wie wir sie unterstützen können, und stellen sicher, dass sie ausreichend Informationen erhalten und dass die Kommunikation funktioniert, um ihnen beim Einleben hier zu helfen.

Viele Geflüchtete haben Angst vor der Polizei

Viele Geflüchtete kommen aus Ländern, in denen diktatorische Regime herrschen und die Polizei für Angst und Unterdrückung steht. Sie müssen sich erst daran gewöhnen, dass die Situation hier anders ist. Wenn es Probleme in den Geflüchtetenunterkünften gibt, reagiert die Polizei oft mit einem massiven Einsatz von vier oder fünf Einsatzwagen. Dies löst bei den Menschen zunächst Ängste aus und die Stimmung droht außer Kontrolle zu geraten. Hier wäre eine sensiblere Herangehensweise erforderlich. Natürlich ist es wichtig, dass die Polizei bei Problemen präsent ist, jedoch muss dies nicht unbedingt mit einer großen Anzahl von Beamten geschehen. Oft stehen die Polizisten selbst unter Druck und verfügen über nur über begrenzte Informationen. Wir haben persönliche Kontakte zu einigen Polizeibeamten, die wir in solchen Fällen kontaktieren können. Meistens bitten wir darum, dass die Anzahl der Einsatzfahrzeuge reduziert wird. Oft lösen sich die Probleme, sobald die Polizei abzieht.

Seit 2015 sind viele neue migrantische Vereine entstanden

Vor 2014/15 gab es hier in Weimar nicht viele Menschen mit Migrationshintergrund. Die meisten waren Studenten, die sich auf ihr Studium konzentrierten. Es gab nur wenige Personen, die sich aktiv im Migrationsbereich engagierten. Das änderte sich jedoch ab 2014/15, als deutlich mehr Menschen hierherkamen. Infolgedessen mussten wir neue Strukturen aufbauen, denn Einzelpersonen können nur begrenzt viel bewirken. Neben dem Ausländerbeirat hatten wir viele Unterstützer, die zwar nicht im Beirat waren, aber dennoch helfen wollten. Im Jahr 2015 gründeten wir aus bereits bestehenden Vereinen, die heute als Migrantinnenorganisationen bekannt sind, das Migranetz. Es ist ein Landesnetzwerk von Migrantinnenorganisationen in Thüringen und seit 2020 ein eingetragener Verein. Wir begannen mit acht Migrantenorganisationen und sind mittlerweile auf 37 angewachsen. Es ist nicht einfach, innerhalb von fünf bis sechs Jahren so schnell zu wachsen. Die meisten Vereine in unserem Netzwerk wurden von Personen gegründet, die 2014/15 gekommen sind. Sie erkannten, dass solche Vereinsstrukturen sowohl für sie als auch für die Gemeinden, in denen sie leben, von großem Nutzen sind. Wenn man etwas für seine Gemeinschaft tun möchte und dafür finanzielle Unterstützung benötigt, dann führt kein Weg an Vereinen vorbei. Deutschland wird nicht umsonst als das Land der Vereine bezeichnet.

Hier im Osten gibt es richtig viel Engagement

Immer wieder werde ich gefragt, warum ich im Osten geblieben bin oder warum ich den Osten so schätze. Meine Antwort ist stets die gleiche: Hier im Osten gibt es ein enormes Maß an Engagement. Ja, es gibt auch eine politische Stimmung, die nicht ideal ist, aber das betrifft nicht den gesamten Osten, sondern nur einen Teil. Besonders in den Jahren 2014/2015 haben wir erlebt, wie hilfsbereit die Menschen sind. Bei jedem kleinen Hilferuf waren wir überwältigt von der Vielzahl an engagierten Menschen, den zahlreichen Spenden und dem starken Wunsch, einfach zu helfen. Natürlich ist Rassismus ein Thema, besonders im Osten. Hier ist er oft sichtbarer. Ich erlebe immer noch rassistische Vorfälle, sei es an der Bushaltestelle oder am Bahnhof. Manche Blicke schmerzen, und wir werden gelegentlich beschimpft. Der Osten wird manchmal mit dem Westen verglichen, der eine ganz andere Migrationsgeschichte und Migrant*innenzahlen sowie bereits vorhandene Strukturen hat. Bis 2017 gab es im Osten keinen einzigen Dachverband für Migrantenorganisationen. Deshalb haben wir 2017/2018 den Dachverband ostdeutscher Migrantenorganisationen, DaMOst, gegründet. Von Anfang an war ich mit dabei. Im Osten gibt es über 400 aktive Vereine, und für uns ist es wichtig, dass die Politik auch mit den Menschen aus dem Osten spricht, nicht nur mit denen aus dem Westen. Denn Ost und West sind zwei unterschiedliche Welten mit ganz unterschiedlicher Geschichte, und das sollte berücksichtigt werden.

Rassismus geht die ganze Gesellschaft an

Wir von den Migrant*innenorganisationen setzen uns aktiv gegen Rassismus ein, doch dieses Anliegen betrifft die gesamte Gesellschaft. Es ist nicht allein unsere Aufgabe, sondern eine Angelegenheit, die uns alle angeht. Was uns fehlt, ist das aktive Eintreten der Gesellschaft gegen Rassismus. Es genügt nicht, dass einige wenige aktive Personen uns unterstützen und Solidarität zeigen. Diese Haltung muss von der gesamten Gesellschaft getragen werden, sodass rassistische Beleidigungen und Handlungen nicht toleriert werden.

Andere Schwerpunkte in den Medien setzen

Interkulturelle Wochen (Bild: Stadt Weimar)

Die politischen Entscheidungsträger haben die Verantwortung zu entscheiden, aber gleichzeitig müssen sie die Menschen mitnehmen. Ich kenne viele Einwohner meiner Stadt und führe mit vielen Gespräche. Die meisten sind unzufrieden mit einer Politik, die zu wenig Informationen liefert oder diese falsch adressiert. Es besteht jedoch ein dringender Bedarf an Informationen. Die Kommunikation zwischen Politik und Gesellschaft muss unbedingt verbessert werden. Es ist wichtig, dass die Politik auch die Migrant*innen anspricht, denn sie kennen beide Kulturen und wissen, wie man mit ihnen umgeht. Wir dienen als Brückenbauer. Wir sind mit den Situationen im Iran oder in Afghanistan vertraut und sehen uns in einer Vermittlungs- und Vertretungsrolle. Wir ermutigen auch unsere Gemeinschaft dazu, ihre Anliegen an uns weiterzuleiten. Wir möchten nicht nur als Dolmetscher wahrgenommen werden, sondern als aktive Mitgestalter. Dies hat oft gefehlt. Zudem spielen die Medien eine wichtige Rolle, und es ist wichtig, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Sie sollten nicht nur Negatives aufzeigen, sondern auch positive Beispiele.

Am Ende werden wir alle in einen Topf geworfen

Wenn nun in Weimar beispielsweise fünf Personen Probleme verursachen - und wir sind hier über 6000 Migrantinnen - dann wird sofort gesagt: "Schau, was sie (die Migrantinnen) machen." Und genau das ist das Problem. Wir sind selbst gegen Probleme, gegen Konflikte, gegen Personen, die auf der Straße oder in der Öffentlichkeit stören. Aber letztendlich werden wir mit ihnen in einen Topf geworfen. Integration – ein Begriff, den ich überhaupt nicht mag – bedeutet nicht, dass ich meine Kultur, Tradition und Religion aufgeben muss. Vielmehr bedeutet es, dass ich meine persönlichen Merkmale in diese Gesellschaft einbringe und gemeinsam mit anderen lebe. Es bedeutet nicht, dass ich alles aufgeben muss. Ich muss mich nicht wie ein Deutscher verhalten, aber ich muss die Gesetze respektieren und die hiesige Gesellschaft sowie Kultur achten. Ansonsten muss ich nichts aufgeben.

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