Winzerla: Ein Stadtteil heißt Geflüchtete willkommen und mobilisiert sich gegen Neonazis

Im Jenaer Stadtteil Winzerla – seit den 1990er-Jahren Treffpunkt neonazistischer Gruppen – wurde im September 2015 eine der ersten Notunterkünfte für Geflüchtete in einer Turnhalle eingerichtet. Die evangelische Stadtteilgemeinde stellte zur niedrigschwelligen Unterstützung der Ankommenden alsbald ihre Räumlichkeiten zur Verfügung. Die Pastorin der Gemeinde erzählt darüber, wie das Engagement begann, sich entwickelte und so das Gemeindeleben nachhaltig veränderte.

Ort und Datum des Interviews: Jena, 30.8.2021

Ein Stadtteil mit rechtsradikaler Vorgeschichte

Als 2011 der NSU mit dem Tod von Mundlos und Böhnhardt aufgedeckt wurde, war das Entsetzen im Stadtteil groß und natürlich auch in der Kirchgemeinde. Seitdem ist hier viel passiert und immer wieder werden wir gefragt: Habt ihr das nicht mitgekriegt? Wieso ist da so wenig Widerstand geleistet worden? Oder wieso konnten die Nazis in den 90er-Jahren hier so den öffentlichen Raum beanspruchen, dass sich der NSU bilden konnte und auch viele Fans und Unterstützer hatte? Seitdem sind wir noch einmal wacher geworden. Und seitdem ist das auch so in unserem Leitbild von Winzerla verankert: Wir sind ein weltoffener Stadtteil. Jeder Mensch, der hierher kommt und seine Zelte aufschlägt, ist willkommen und wir reichen ihm die Hand und versuchen Integration gemeinsam zu ermöglichen. Und wenn die Nazis hier auftreten, dann sind wir auch da. Und unsere sehr prompte Gegenwehr hat eigentlich gut gefruchtet, sodass wir hier im Stadtteil kaum noch Nazi-Aufzüge haben.

Ein ganzes Gemeindehaus wird zum Willkommensort

Wir sind eine sehr gut vernetzte Gemeinde, also die ganzen sozialen Akteure im Neubaugebiet kennen uns und wir kennen sie und man hilft sich gegenseitig. Seit etwa zehn Jahren gibt es die Netzwerktreffen, in denen unsere Gemeinde integraler Bestandteil ist. Dann kam die große Herausforderung 2015, und es stellte sich heraus, dass unser Gemeindehaus der prädestinierte Ort ist, um diese ganze Willkommenskultur irgendwie einzurichten und zu schauen, wie können wir hilfreich sein, wie können wir den Menschen, die nach Winzerla kommen, bei der Integration helfen. Und da hat es nie Diskussionen gegeben, auch nicht in der Gemeindeleitung. 

Die Gemeinde setzt sich mit Fremdheitserfahrungen auseinander

Im Frühjahr 2015 hatten wir in der Gemeindeleitung festgestellt, dass mehr und mehr auch ausländische Familien nach Winzerla kommen und uns daher überlegt, hierher ins Gemeindehaus einzuladen zu einem Gesprächsnachmittag unter dem Motto: Damit aus Fremden Freunde werden. Damals haben wir in kleinen Gruppen zusammengesessen und zunächst über eigene Erfahrungen von Fremdheit gesprochen. In einem zweiten Schritt haben wir Ideen gesammelt, wie wir denjenigen, die zu uns kommen und genau solche Fremdheitserfahrungen hier erleben, wie wir ihnen Brücken bauen und ihnen sozusagen etwas anbieten können, dass sie hier schneller Fuß fassen. Und aus diesem Gesprächsnachmittag ist im März 2015 ein Flüchtlingsfreundeskreis entstanden, nichts ahnend, dass im Sommer die Ersten ankommen werden. Damit waren wir der erste Stadtteil in Jena mit Engagierten, die schon sensibilisiert waren und eine Struktur hatten, mit einem E-Mail-Verteiler und regelmäßigen Treffen.

Ein Begrüßungsessen aus der Heimat

Turnhalle als Notunterkunft für Geflüchtete (Bild: Interviewpartnerin)

Im September 2015 waren dann die Flüchtlingsunterkünfte in Jena voll und die Stadt musste überlegen, wo man die Menschen aus den nächsten Bussen, die aus Eisenberg kamen, unterbringt. Das war dann in einer Turnhalle, die vor 50 Jahren gebaut wurde, und dementsprechend in keinem guten Zustand war. Zwei Steckdosen gab es in der ganzen Turnhalle. Und dort wurden die ersten 53 zumeist Syrer hingebracht. Die Stadt, also das Sozialamt, wusste, dass wir diesen Flüchtlingsfreundeskreis haben und dann kam der Anruf: „Heute kommen die ersten 17 Leute und drei Tage später kommen dann noch weitere, bis auf 53 Leute können wir dort unterbringen, und die Turnhalle wird auch so belegt werden." Und wir haben dann zumindest für die ersten 17, hier zusammen mit einer syrischen Familie syrisches Essen gekocht, und als sie dann abends in der Turnhalle ankamen, Decken auf dem Fußboden ausgebreitet und zum Essen eingeladen. Und mit all diesen Leuten sind wir eigentlich bis heute in Kontakt. Sie haben immer wieder gesagt: "Wir haben zwar mit einem anderen Quartier gerechnet, waren ziemlich erschüttert, dass wir jetzt hier auf Feldbetten in einer Turnhalle gelandet sind. Aber wie ihr uns empfangen habt, mit dem Essen aus der Heimat, das werden wir nicht vergessen."

In den ersten Wochen haben wir täglich gemeinsam gekocht

Unsere erste große, schöne Erfahrung war, dass wir gesagt haben: „Okay, ihr seid da oben in einer Turnhalle, aber das Leben ist ja auch Essen und Trinken und wir laden euch ein, dass wir hier unten im Gemeindehaus das Abendessen gemeinsam vorbereiten“. Ich habe die Einkäufe immer aus Spenden machen können, die bei uns eingegangen sind von Leuten, die gesagt haben: "Wir haben keine Zeit, uns einzubringen, aber wir wollen euch unterstützen." Manchmal war das Geld alle, und am nächsten Tag war wieder ausreichend da, es hat immer funktioniert. Und dann sind wir mit ein paar Syrern einkaufen gefahren in diesen wenigen arabischen Läden, die wir damals in Jena hatten, und haben sieben Wochen hintereinander jeden Abend hier unten alle zu Gast gehabt.

Einander näher kennenlernen und Ängste überwinden

Die Seniorinnen des Kaffeekreises der Gemeinde hatten Bedenken und sagten: „Das ist eine ganz andere Kultur und ein ganz anderer Glauben. Und die verstehen doch gar nicht, wie wir hier leben. Das sind ja alles junge Männer, da kann man sich abends ja nicht mehr auf die Straße trauen.“ Und dann dachte ich mir, das Beste ist, in die Begegnung gehen. Also habe ich mir drei Bewohner aus der Turnhalle geholt, z.B. einen Geflüchteten, der Lungenarzt in Aleppo gewesen ist, und habe sie mit einem Dolmetscher in den Seniorenkreis eingeladen. Sie haben ihre Geschichten erzählt und Fragen beantwortet und beim nächsten Mal haben die Damen gefragt: „Wie können wir jetzt helfen?“ - „Ja, wir brauchen Bettwäsche, wir brauchen ständig irgendwelche Dinge, damit das Leben in der Turnhalle funktioniert.“

In der Turnhalle: Gemeinsame Bauarbeiten, Kinoabende und Feste

Errichtung von Zwischenwänden in einer Jenaer Turnhalle als Notunterkunft für Geflüchtete, 2015/16 (Bild: Interviewpartnerin)

Dann gab es ein wirklich schönes Erlebnis... Also, wenn sich 53 Leute nebeneinander nachts zur Ruhe liegen, dann kommt man nicht zur Ruhe. Es fehlten abgeschlossene kleine Räume, und die Bewohner fragten, ob wir nicht irgendwie Stellwände organisieren könnten. Und die Stadt sagte: „Wo denkt ihr hin, der Markt ist leergefegt, aber wenn ihr eine Idee habt, dann unterstützen wir euch“. In einem unserer Kirchorte hatte ich einen Zimmermann und der hat sich dann die Turnhalle angeguckt und mit den Syrern ausgemessen. Und dann sind wir zweimal mit dem LKW zum Baumarkt gefahren und haben Kabinen eingebaut in die Turnhalle, wo sie zu zweit oder zu dritt drin gewohnt haben. 

Es gibt auch Menschen, die sehr deutlich was dagegen haben, dass ihr jetzt hier seid

Das Erste, woran ich mich erinnere, war, dass ich vom Einkauf kam mit zwei Syrern und der ganze Kofferraum voll war mit Brotfladen und Kichererbsen, Büchsen, alles, was wir brauchten, um Abendbrot zu machen. Dann sagten Leute, hier aus der Straße: „Sagt mal, ihr füttert die jetzt wohl auch noch durch“ und „Muss das sein“ und „Die werden doch versorgt.“ Dann habe ich gesagt: „Ja, aber das sind unsere Gäste und Gästen tut man, so wie ihr Zuhause euren Gästen, etwas Gutes, so machen wir das jetzt mal.“ Und was ganz wichtig war, dass wir den Turnhallen-Bewohnern immer gesagt haben: „Bitte geht nicht alleine durch den Stadtteil für eure Sicherheit, wir können sie in letzter Konsequenz nicht gewährleisten. Hier gibt es auch Menschen, die sehr deutlich was dagegen haben, dass ihr jetzt hier gelandet seid und wir möchten nicht, dass ihr, wenn ihr alleine unterwegs seid, irgendwie angefallen oder überfallen werdet."

Nach dem brutalen Überfall auf zwei Geflüchtete, weiße Rosen für die Quartiersbewohner*innen

Und das ging gut bis Januar 2016. Dann sind zwei afghanische Geflüchtete tatsächlich brutal überfallen und richtig mit Waffen angegriffen worden, sie hatten dann Schädelfraktur und Platzwunden. Am nächsten Tag saßen hier bei mir im Dienstzimmer der Stadtteilbürgermeister, Jena-Wohnen Vertreter, die Stadtteilmanager, die Flüchtlingssozialarbeiterin, das Sozialamt und wir haben überlegt, wie wir mit diesem Vorkommnis umgehen, weil wir natürlich nicht wollten, dass das jetzt ein Dammbruch ist und am nächsten Wochenende die nächsten gejagt werden. Und dann hatte ich so eine Idee, so in Erinnerung an Hans und Sophie Scholl: „Wir müssen jetzt auf die Bürger von Winzerla zugehen und sagen, dass hier etwas Katastrophales passiert ist, und dass wir die Leute zutiefst verachten, die so etwas machen und sich herausnehmen, hier Menschen zusammenzuschlagen."

Keiner wollte weg

Dann im Dezember oder Januar, hieß es, jetzt haben wir freie Quartiere in der Stadt und 25 Leute können ins Stadtzentrum ziehen. Wir haben dann eine große Abschiedsparty gefeiert, aber es stellte sich heraus, dass keiner weg wollte. Das Leben in einer Turnhalle war nicht einfach, aber es hat auch eine neue Gemeinschaft geschmiedet. Und dann haben sie gelost, wer raus muss aus der Turnhalle ins neue Quartier. Wir haben natürlich das neue Quartier auch mit betreut und dann begann nach und nach die Integration und danach haben wir noch ein zweites und ein drittes Mal die Turnhalle neu belegt bekommen mit nachkommenden Geflüchteten. Und das ging, denke ich, etwas über ein Jahr, dass wir da oben die Turnhalle betreut haben.

Viele Unterstützer*innen, mit und ohne Glauben

Wandnotizen im Beratungsraum im Gemeindehaus (Bild: Interviewpartnerin)

Es war so eine Kerngruppe von vielleicht 20, 30 Leuten, Deutschen, die da ein- und ausgegangen sind in der Turnhalle und die Kontakte blieben. Und als die Geflüchteten dann ihren Bleibestatus hatten und eine Wohnung zugewiesen bekamen, haben wir bestimmt zwei Jahre lang Kücheneinrichtungen eingesammelt und in irgendwelchen Wohnblöcken installiert. 2019 haben wir in unserem monatlich stattfindenden Café-Welcome, wo alle kommen konnten, festgestellt, dass es vor allem um Familiennachzug ging. Es wurden Leute gesucht, die bereit waren, Bürgschaften zu übernehmen. Und ich war erstaunt, wer da alles geholfen hat. Für uns war es eine gute Erfahrung, dass wir im Stadtteil auf einmal noch mal ganz anders wahrgenommen wurden. Viele Studenten haben gesagt: "Wir wären nie auf die Idee gekommen, in eine Kirchengemeinde zu gehen. Aber dass ihr hier alle eure Räumlichkeiten zur Verfügung stellt, das ist großartig!" Also, da sind auch Barrieren, die es natürlich gibt, weil die wenigstens noch Kontakt zur Kirche haben. Viele neue Freundschaften sind da im Stadtteil entstanden und viel Vertrauen zueinander.