„Eine wirkliche Herbst-Bewegung in den Betrieben“

Über die Versuche, die Interessenvertretung in den Betrieben nach der Wende selbständig und basisdemokratisch zu organisieren. Im Interview ist eine Sozialwissenschaftlerin, Historikerin und Aktivistin einer unabhängigen Gewerkschaftsbewegung in der DDR und in Gesamt-Deutschland. Sie lebt in Berlin.

ID: Li02, Ort und Datum des Interviews: Berlin, 3.6.2022

„… dass man sich plötzlich öffentlich kritisch darüber verständigte“ – Der Beginn des Wandels

Mit den Wahlbeobachtungen der Kommunalwahl im Frühjahr 1989 [1] ging es los, dass ich gedacht habe: Mensch, hier ist irgendwas anders. Dann habe ich mich mit mehreren von der Opposition zusammengetan und wir haben im Juni 1989 eine kleine Gruppe, einen Diskussionskreis gegründet, in dem wir uns über die Situation der Arbeiter in der DDR verständigen wollten. Und das ist vielleicht ganz interessant, bei dieser Bürgerbewegung und diesen neuen Gruppen, da gab es eigentlich überhaupt keine Gruppen, die sich dezidiert mit der Situation von Arbeitern beschäftigt haben. Es gab die Vereinigte Linke, das ist richtig. Aber jemand, der sich wirklich nur überlegt, wie müsste eine neue Interessenvertretung aussehen, wie müssten diese sogenannten Arbeitsbeziehungen im Betrieb oder in der Gesellschaft aussehen, das gab es nicht. Und wir saßen da, weil es eben auch in diesem Friedrichsfelder Friedenskreis [2] bisher solche Diskussionen nicht gab. Und wir dachten, darüber müssten wir uns mal verständigen. Dann haben wir Lenins „Gewerkschaftsfrage“ gelesen, kritisch, natürlich.

„Das war für mich eigentlich eine Befreiung“ – Die Wende als Startpunkt, endlich aktiv werden zu können

Für mich hat tatsächlich mit dieser Wendezeit ein neues und eigentlich ein besseres Leben begonnen, und zwar deshalb, weil ich in der Zeit davor, in dieser Stagnation der 1980er Jahre, wirklich gedacht hab, mein Leben ist zu Ende. Ich war ja begeisterter Pionier und zunächst eins mit diesem Staat, aber in der Zeit, in der ich dann kritisch dachte, hatte ich das Gefühl, mit keinem über solche Sachen reden zu können, das war eine Zeit, wo man nicht aktiv sein konnte, wo man nur dagesessen und gewartet hat, ob sich irgendwas ändert. Diese Zeit war für mich ganz schrecklich. Ich hatte auch einen richtigen Zusammenbruch 1987, 88, wegen des Nichtstuns, sagte damals die Therapeutin. Insofern war diese Zeit, wo ich auf einmal wirklich etwas machen konnte, persönlich richtig gut. Und es war für mich überhaupt nichts Negatives, dass es sich dabei um eine Gesellschaft handelt, die ich auch sofort wieder bekämpfen werde, wo ich sofort wieder meinen Platz in Gruppen oder in Zusammenhängen fand, in denen man was ändern will, gegen Hartz IV zum Beispiel. Das war für mich eigentlich eine Befreiung.

Trotzdem hat natürlich dieses sich einstellen müssen auf eine in jeder Hinsicht neue Situation auch Stressgefühle gebracht. Aber da es für mich kein Abbruch einer erfolgreichen Entwicklung in der DDR gewesen ist, sondern eigentlich das Ende einer Stagnation und der Beginn eines neuen, aktiven Lebensabschnitts, war auch viel positiver Stress dabei. Ich hab die Situation im Westen relativ gut gepackt, weil ich mich gefreut habe, endlich zusammen mit anderen aktiv werden zu können.

„Vielleicht so eine Bewegung in den Betrieben von unten“ – Die Gründung der Initiative Unabhängiger Gewerkschaften

"Dann gründeten wir also eine Initiative für unabhängige Gewerkschaften."

Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, ist ja schon am 17. oder 18. Oktober Erich Honecker abgesetzt worden. Ich glaube, es hat mich überrascht. Aber meine politische Aktivität lag weniger bei dem, was da oben im Politbüro oder in der Partei passiert. Da gab es ja auch viele, die sich dann um die Veränderungen in der SED gekümmert haben. Und dann haben sich auch die verschiedenen Gruppen gegründet, das Neue Forum zum Beispiel, die in den Dialog mit den Herrschenden gingen, um etwas zu ändern. Es war Anfang Oktober, dass wir uns wieder in dieser kleinen Gruppe getroffen haben, die sich für die Lage der Arbeiter in der DDR interessiert hat, und haben dann gesagt, wenn jetzt hier irgendwas passiert, dann muss auch in den Betrieben was losgehen. Da muss ja auch ein Umsturz erfolgen, nicht nur auf der Straße. Und dann haben wir eine Initiative für unabhängige Gewerkschaften gegründet. Wir waren nur sechs, sieben Leute. Jeder hat noch einen mitgebracht, einen Vertrauten. Denn zu dieser Zeit war ja noch völlig unklar, wie die Herrschenden reagieren werden. Also bis dahin war nicht klar, ob die Polizei oder die Kampfgruppen wirklich keine Schüsse auf die Bevölkerung abgeben, ob sie nicht auf die Leute einschlagen. Und am 7. Oktober gab es dann auch nicht nur in Berlin prügelnde Polizei und viele Festnahmen. So viel zum Thema „gewaltfrei“. Und auch danach war noch unklar, wie das jetzt weiter geht: chinesische Lösung [3] oder nicht. Es wäre gelogen, wenn man sagte, dass man da schon gewusst hätte, wie es kommt und dass nicht auf die Demonstranten geschossen wird. Die Angst ist eigentlich erst nach der Maueröffnung kleiner geworden.

„Wahrscheinlich werden wieder die Arbeiter die Suppe auslöffeln müssen“ – Ein Aufruf vor 500.000 Leuten

Das Irre ist, dass es in den Betrieben schon im ganzen Jahr 89 Unmut gab. Zum Beispiel die letzten Gewerkschaftswahlen im Mai 1989, da sind zum Entsetzen des Bundesvorstandes des FDGB [4] plötzlich irgendwelche Gegenkandidaten reingekommen, und die von der Partei Vorgeschlagenen sind nicht gewählt worden. Aber das sind alles Sachen, die haben immer nur die Leute aus dem Betrieb erfahren, die dabei waren. Es gab ja kein Medium, außer den Westen – und den hat so was Gewerkschaftliches in der DDR nicht interessiert. Der hat immer nur spektakuläre Sachen, wenn überhaupt, gebracht. Es fehlte eben in der DDR jede Möglichkeit, in die Öffentlichkeit zu gehen. Und darum wusste keiner vor dem Herbst 1989 von solchen Aufmüpfigkeiten im Betrieb.

„Es begann damals eine wirkliche Herbst-Bewegung in den Betrieben“ – der 9. November macht unabhängige Basisbewegungen möglich

Irgendwann bin ich dann doch rüber und es war klar, dass da jetzt nichts mehr zurückgerollt werden kann. Also dieses Gefühl, dass jetzt wirklich ein Einschnitt passiert ist, auch ein persönlicher, das war auch mir klar. Das hat mich bewegt. Ich bin da so ein paar Schritte rüber. Wahrscheinlich an der Bornholmer Straße, weiß gar nicht mehr. Und auf der anderen Seite habe ich angefangen zu heulen. Und dann sagte mein damaliger Mann, hör auf, die denken jetzt alle, du heulst, weil die Mauer auf ist. Es ist so eine mächtige Spannung gewesen, weil klar war, jetzt endet was. Aber ich habe nicht zu denen gehört, die dachten, dass das der Tag gewesen ist, an dem jetzt all die Gruppenbildung, Umsturz, neue DDR und eine völlig andere Gesellschaft von unten, beendet seien. Die meisten Aktivitäten, die runden Tische, die betrieblichen Aktionen und auch unsere Gruppe begannen ja jetzt erst richtig mit der Arbeit. Vorher war die Angst noch groß gewesen, als die Grenzen zu waren. Wir haben dann also einen Raum ergattert, und dort trafen sich bis zum Februar 90 Leute aus Betrieben, die von dort berichteten. Erstens, was ist da los, wie benimmt sich der Direktor, was macht die Gewerkschaft, ist die Partei noch im Betrieb? Oder die davon berichteten, dass sie eine kleine Gruppe gegründet haben, die jetzt einen Aufruf im Betrieb gestartet hat zur Absetzung der BGL [Betriebsgewerkschaftsleitung des FDGB]. Oder die auf eigene Initiative Neuwahlen forderten. Also diese ganzen Vorgänge, die wir die betriebliche Wende nennen und die einfach in ihrer Bedeutung nicht zur Kenntnis genommen wurden, bis heute nicht werden. Nicht von den Medien, aber auch nicht von den Bürgerrechtlern der DDR. Es begann damals eine wirkliche Herbst-Bewegung in den Betrieben. Einige trafen sich bei uns und es wurde spannend und aufgeregt diskutiert, vor allem darüber, wie es weitergeht. Gleichzeitig gab es überall, wirklich überall in der Republik solche Initiativen, teilweise durch uns angeregt, aber auch völlig unabhängig davon.

Der Aufbruch in den Betrieben begann etwas später als der auf der Straße. Aber die Forderungen waren eigentlich die gleichen, es ging um: Transparenz und Offenlegung, Stasi raus aus den Betrieben, Partei raus aus den Betrieben oder mindestens keine Hoheit mehr über diese betrieblichen Vorgänge, Demokratisierung in den Betrieben, Mitbestimmung, SEHR große Mitbestimmungsforderungen bis hin zur Absetzung des Leiters. Das war eine unglaublich tolle Aufbruchsstimmung. Und es war eigentlich für alle das erste Mal, in so einer Gruppe zu arbeiten. Alle, wie wir da so saßen, mich eingeschlossen, haben zum ersten Mal ihre Meinung in einem öffentlichen Raum, in einem öffentlichen Rahmen diskutieren können mit anderen, mit fremden Leuten. Unglaublich. Es ist ja was völlig anderes, ob Du in einem privaten Hauskreis mit Bekannten Texte diskutierst oder ob du mit fremden Menschen jetzt wirklich mal um eine Idee ringst, über was diskutierst, eine Versammlung leitest. Es war total aufregend. Für alle.

„Im Februar war klar, dass daraus keine Bewegung wird“ – Scheitern im Sog der Einheit

Aber das eigentliche und große Problem war, dass wir den Zusammenhang und Halt zwischen diesen verschiedenen Initiativen überhaupt nicht herstellen konnten und von vielen Initiativen auch gar nichts wussten. Und wenn wir was wussten, wussten wir nicht, wie wir sie erreichen können. Es war wirklich ein Drama. Dennoch kamen im Dezember zu einem Treffen 30 oder 40 Vertreter, aus der ganzen Republik. Auch ein AGLer, Abteilungsgewerkschaftsleiter, der gesagt hat, wenn das hier was wird und es mit dem FDGB den Bach runtergeht, dann komme er mit seiner ganzen Mannschaft und trete in die IUG ein. Denn es ist natürlich sehr schnell die Forderung aufgekommen, eine Gewerkschaft zu gründen. Aber da ist mir die Muffe gegangen, weil ich einen tiefen Horror vor Kopfgeburten wie zum Beispiel Parteigründungen „von oben“ habe. Und da haben wir versucht zu sagen, passt auf, das kann schiefgehen. Lasst uns doch erst mal raus finden, wie verbreitet diese betrieblichen Gruppenbildungen in der Republik tatsächlich sind. Das tragen wir erst einmal zusammen. Und wenn dann Ende Januar klar ist, es ist eine große Bewegung und wir können wirklich viele Initiativen unter diesem Gedanken einer Basisgewerkschaft zusammenfassen, dann gründen wir am 30. Januar eine Gewerkschaft. Das war natürlich für den Westen interessant. Die waren am 30. alle da und haben gelauscht, ob wir eine Gewerkschaft gründen werden oder nicht.

Was bleibt, ist kritische Begleitung

"Wir haben gesagt, Achtung, die Gewerkschaften müssen „von unten“ angetrieben werden, man braucht Opposition zu diesen Gewerkschaften."

Aus heutiger Sicht formuliert, blieb für uns jetzt nur noch, diese Einheit, in dem Falle die gewerkschaftliche Einheit, kritisch zu begleiten, also sich nicht da rein zustürzen und zu sagen, das ist die beste aller Welten oder die beste aller Gewerkschaften, sondern sich wirklich kritisch damit auseinanderzusetzen. Und das haben wir gemacht. Wir haben uns mit kritischen, oppositionellen Westgewerkschaftern getroffen, damals war der Kita Streik, der Kindergärtnerinnen in Westberlin, unsere erste Streikbegleitung. Wir haben gesagt, Achtung, die Gewerkschaften müssen „von unten“ angetrieben werden, man braucht Opposition zu diesen Gewerkschaften. Diese Gewerkschaften sind Apparate, die nicht per se eine gute Interessenvertretung sind. Dabei ist auch mit kritischen Gewerkschaftern aus dem Westen im Sommer 1990 gemeinsam ein sehr witziges Heft entstanden: „Hurra, der DGB ist da!“ – wir hatten dann schon einen Computer, und dann haben wir dieses kleine Heft mithilfe der Deutschen Angestelltengewerkschaft gemacht. Die hatte sich dafür interessiert, hat uns auch nicht reingeredet, sondern nur Logistik zur Verfügung gestellt. Ja, es waren zufällig zwei DAG-Funktionäre aus Hamburg dabei. Die haben uns, obwohl sie wussten, dass das ihren Chef sicher nicht begeistern wird, weil wir gar keine Angestelltengewerkschaft werden wollten, bei der Logistik geholfen, von Anfang an.

Ich hatte sehr schnell Kontakte zu Westgewerkschaftlern, die ihrer eigenen Gewerkschaft sehr kritisch gegenüber waren. Da gab es eine Gruppe, die war aus ihrer Gewerkschaft, der IG Metall, ausgeschlossen worden. Wir aus dem Osten dachten immer, das kann doch nicht wahr sein. Wie bei der SED! Die IG Metall hat Mitglieder ausgeschlossen, weil die eine eigene Liste gemacht hatten, für Betriebsratswahlen, als Gewerkschafter eine unabhängige Liste aufgestellt. Und über diese Ausgeschlossenen bin ich in die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt reingekommen. Das ist eine Stiftung, die auch von Leuten aus solchen Kreisen gegründet worden war, eine Stiftung, die Gelder für unabhängige betriebliche Gruppen zur Verfügung stellt. Meine politische Arbeit dort hat über 20 Jahre gedauert.

„Sehr viel Solidaritätsgeschichten gemacht“ – Das Bündnis kritischer GewerkschafterInnen als Ost-West-Projekt

Am Ende des Jahres 1990 waren dann als Aktive nur noch wenige aus der Initiative für unabhängige Gewerkschaften übrig. Und im Dezember 90 haben wir dann mit zwei Leuten von der Alternativen Liste in Westberlin und einem von der Vereinigten Linken ein Bündnis kritischer GewerkschafterInnen Ost-West gegründet. Das war dann die nächste Aktivitätsstrecke, und wieder ein breites politisches Bündnis. Wir haben seit Januar 1991 bis 1997 wirklich wöchentlich, manchmal häufiger, diesen Transformationsprozess, diesen Deindustrialisierungsprozess im Osten, kritisch, auch gegenüber den Gewerkschaften, begleitet. Das war unser gemeinsames Interesse. Unser gemeinsamer Nenner. Wir haben dann auch sehr viel Solidaritätsgeschichten gemacht, zum Beispiel damals Bischofferode-Unterstützung [7] geleistet, unterschiedliche Löhne in Ost und West diskutiert, große Demonstrationen organisiert, um auf die Situation im Osten aufmerksam zu machen. Am 1. Mai 1991 haben wir eine Demo organisiert, unter dem Motto „Alles, was uns fehlt, ist Solidarität!“. 1992, am 1. Mai, haben wir einen eigenen Block auf die Beine gestellt, unter dem Motto: Eine neue Gewerkschaft muss her. Hat uns natürlich viel Ärger eingebracht. Jedenfalls waren wir als BKG, wirklich unglaublich präsent. Auch in den Medien. Wir haben die Lücke gefüllt, die die Gewerkschaften gelassen hatten und versucht, Solidarität zwischen Ost und West herzustellen.

„Nicht dem Narrativ der offiziellen Geschichtsschreibung folgen“ – Forschung zu Betrieben und Gewerkschaften in DDR und Nachwendezeit

Was ist mit mir passiert? Ich war in der Akademie der Wissenschaften, die ist 1991 aufgelöst worden und es gab mehrere Pools, in die Wissenschaftler gesteckt wurden – wo sie dann darauf gewartet haben, ob sie von einer Uni aufgenommen werden. Der, in dem auch ich war, war so eine Gesellschaft, die hatte jemand aus dem Westen für den Zweck gegründet, Ostwissenschaftler zu beschäftigen. Mit solchen Gesellschaften haben sich übrigens viele Westler damals eine goldene Nase verdient. In meinem Fall war es ein Professor für Kunstgeschichte, der hat eine Riesengesellschaft gegründet, wo am Ende über 200 Wissenschaftler aus der DDR, also aus dem Osten, aufgefangen waren und über Projekte in verschiedene Gruppen verteilt arbeiteten. Wie gesagt, damit hat man wirklich gut Geld verdient. Er hatte in der Uckermark dann auch noch Landwirtschaftsprojekte und so. Und ich saß in einem Projekt, das sich mit der Transformation der Weststrukturen auf Ostdeutschland zu beschäftigen hatte. Wills der Teufel – ich hatte wirklich Glück, ich konnte mich wieder mit dem beschäftigen, was mich interessiert, mit dem Thema Transformation der Gewerkschaften. Und das ist ja dann auch später mein Thema geworden, wie die Ostgewerkschaften zu Westgewerkschaften wurden. Einverleiben oder auflösen oder übernehmen, es gab verschiedene Varianten. Von diesen Recherchen habe ich dann gelebt eine Zeit lang. Das traf sich wirklich ausgezeichnet mit meiner politischen Arbeit und hat viel Spaß gemacht, weil ich dadurch ziemlich gute Kenntnis davon bekam. Und über diese Gewerkschaftstransformation von West nach Ost schreibe und rede ich gerne auch heute noch. Die DGB-Gewerkschaften mit ihren Apparaten waren natürlich überhaupt kein bisschen auf diese neue Situation eingestellt, sondern haben wie immer ihr Ding gemacht, unter dem Motto: Es ging ja nicht anders. Immerhin wurde ja grade eine ganze Volkswirtschaft deindustrialisiert! Nur nicht nachdenken, ob man etwas anders machen müsste, nur nicht zum Beispiel über einen politischen Streik nachdenken. Mit politischem Streik meine ich einen Streik, der sich über die Branchen hinweg, gegen die Politik, der Regierung oder der Treuhand gerichtet hätte. Wenn die Gewerkschaften Anfang der 1990er dazu in der Lage gewesen wären, wäre es ganz bestimmt etwas anders im Osten gelaufen. Es war ja eine Kraft da, eine Macht der Belegschaften.

„Nicht in der besten aller Welten angekommen“ – im November 89 waren die Weichen noch nicht endgültig gestellt

Was meine ich eigentlich, wenn ich behaupte, dass das offizielle Narrativ ein die Geschichte verfälschendes ist, auch zum Teil ein teleologisches, dem man was aus linker Sicht entgegensetzen sollte? Das offizielle Narrativ lautet, dass die Geschichte auf die deutsche Einheit zulief und nun die DDR in der besten aller Welten angekommen ist. Man muss natürlich auch ehrlicherweise sagen, dass diese Haltung oder dieses Empfinden von vielen Bürgern aus der DDR mitgetragen wurde. Wenn du sie heute fragst, dann haben Sie das Gefühl, ja, wir sind damals auf die Straße gegangen, damit wir jetzt hier in den Westen kommen. Was ich dem versuche entgegenzusetzen, ist, dass Geschichte keine zu sich selbst kommende Idee ist, sondern dass man sehr genau gucken muss, wie sie genau verlaufen ist. Denn wenn man das nicht macht, weil man alles gleich schon von Anfang an weiß, dass und wie es auf das erwünschte Ende zuläuft, dann erkennt man nicht, dass die Entwicklung in durchaus verschiedenen Phasen verlaufen ist, und dann verkennt man, dass im Herbst 89 eine Bevölkerung, das muss man einfach mal sagen und darauf können wir auch stolz sein, dass eine Bevölkerung den Mut hatte, auf die Straße zu gehen, ihre Regierung abzulösen, und etwas Neues forderte und einbringen wollte. Eine allgemeine gesellschaftliche Diskussion fand im Herbst 1989 in der DDR statt, wie wir unser Leben neu organisieren können. Und man verkennt, das ist vielleicht noch wichtiger, dass die Geschichte zu diesem Zeitpunkt, im Herbst 1989, offen war. Wir sind nicht wegen der deutschen Einheit auf die Straße gegangen, der Umschwung kam erst später.

„Irgendwie immer ein Fremdkörper blieb“ – über die Schwierigkeiten der Zusammenarbeit von Ost- und West-Oppositionellen

Ich habe dann sehr schnell mit West-Kollegen, Funktionären, Linken und Nichtlinken zusammengearbeitet. Natürlich habe ich auch diese teilweise bitteren Erfahrungen gemacht, wie schwer es ist, als Ost-Oppositionelle oder auch als Ostlinke in eine gute Zusammenarbeit mit Westleuten zu kommen. Es ist ganz eigenartig, ich hatte bis vor kurzem, also noch nach 30 Jahren, in bestimmten Milieus oder Gruppen das Gefühl, dass ich nur gelitten wurde, aber irgendwie immer ein Fremdkörper blieb. Es muss eine unglaublich große Bedeutung haben, wie man sozialisiert ist. Und meine Sozialisation, diese sehr stark auf Bewegung orientierte Sozialisation, nicht auf Parteien, hatte ja noch einen zweiten Aspekt oder eine zweite Sichtweise mit sich gebracht, nämlich ein großes, starkes Vertrauen auch in Massen und Volksbewegungen. Ich habe nie etwas gegen den Begriff Volk gehabt, als die ersten Westler mich korrigiert haben, und zwar mit Hass in den Augen, ich würde jetzt hier völkisch reden. Das war auf einer der Montagsdemos, 2003 gegen Hartz IV, da haben wir im Haus der Demokratieden Grundstein für diese republikweite Bewegung und die Montagsdemos mit gelegt. Da trafen wirklich Welten aufeinander. Ich habe nichts gegen den Begriff Volk, ich bin auch keine Antideutsche oder so. Ich habe einfach einen klar positiven Bezug zu Massenbewegungen. Und da sah ich dann auf einmal, dass die Westler sehr, sehr kritisch waren und überhaupt nicht begriffen haben, wie ich mit dem Begriff Volk hantieren kann.

Emanzipatorische Bewegungen als Motor der Entwicklung

"Aber ich gehörte nicht zu denen, die diese Diskussion „Linkssein“ oder „Menschenrechtler“ zu Oppositionszeiten zu Kampfbegriffen gemacht haben."

Was mein Leben bis heute sehr geprägt hat, war diese unglaublich starke Fokussierung auf Basisbewegungen. Also nicht im Sinne, dass ich jede Bewegung bejubele und emanzipatorisch und für links halte. Das meine ich nicht. Ich meine, dass sich Veränderungen in erster Linie über soziale oder politische Bewegungen zeigen und dann wirklich Erfolg haben können, wenn solche Bewegungen entstehen und nicht durch Gründung einer Partei oder so. Ich habe nichts gegen Parteien, sie sind wichtig in dieser politischen Landschaft. Aber emanzipatorische Bewegungen sind für mich immer ein starkes Kriterium für Entwicklung. Das hängt vor allem mit meinen eigenen Erfahrungen zusammen. Ich bin nie so eine richtige Politikasterin geworden. Ich habe meine Kraft immer auf die Unterstützung von Bewegungen orientiert.

Der Begriff links, ob man links sei oder nicht, ist für mich eigentlich erst durch die Begegnung mit den Kollegen aus dem Westen relevant geworden. Das war problematisch, denn „links“ oder gar „kommunistisch“ war natürlich total negativ besetzt in der DDR-Bevölkerung, das wollte man nicht sein. Ist ja logisch, man musste sich ja irgendwie von dieser Ideologie abgrenzen. In der Opposition vor 1989 ging der Streit eher darum, ob man Menschenrechtler ist oder links, die Linken wollten sich immer stark von den Menschenrechtlern abgrenzen. Aber ich gehörte nicht zu denen, die diese Diskussion „Linkssein“ oder „Menschenrechtler“ zu Oppositionszeiten zu Kampfbegriffen gemacht haben. In der Zeit, als wir die unabhängige Gewerkschaftsbewegung gegründet hatten, kamen auch ganz viele Linke aus dem Westen, weil sie dachten, unabhängige Gewerkschaftsbewegung, da sind ja Arbeiter. So kamen viele K-Gruppen-Vertreter angelaufen und haben Ratschläge erteilt, zum Beispiel, dass wir sofort eine Partei gründen sollten, weil sie dachten, es ist die Arbeiterklasse, die da sitzt und die braucht eine Partei. Was links ist und was der Begriff bedeutet, ändert sich ja auch. Damals musste ich mich auch abgenzen von solchen Parteilinken, heute habe ich einen ganz weiten Begriff davon, was links ist. Ich habe für mich dann das Wort „emanzipatorische Linke“ gefunden, denn irgendwann wurde man ja immer danach gefragt, wo man sich einordnet, in welche Tradition. Die Gretchenfrage. Wenn ich sage: „Bewegungslinke“, dann ist das auch problematisch. Bewegungen können durchaus einen völkischen, nationalistischen Charakter haben, das ist nicht emanzipatorisch. Zum Beispiel diese Pegida-Bewegung, oder diese Corona-Leugner Bewegungen. Selbst dann, wenn viele Harmlose mitlaufen, die aber Verschwörungsmythen und Sekten unkritisch gegenübersteht, ist es eben keine emanzipatorische Bewegung. Die Unterscheidung muss man schon machen.

„Es war eine totale Apparateatmosphäre“ – Enttäuschungen über die Gewerkschaften

1993 gab es den legendären IG Metall-Tarifkampf in Ostdeutschland. Es ist ja ein sehr großes Tarif-Gebiet. Und da hat die IG Metall einen Abschluss vereinbart, der zugunsten ihres West-Klientels ging und nicht zugunsten des Ost-Klientels. In diesem Dilemma steckten die Gewerkschaften ja immer. Da gab es dann total Widerstand und Proteste von den Ostgewerkschaften. Die wollten weiter streiken, die wollten diese riesige Lohndifferenz schneller weg haben, die wollten einen höheren Lohnabschluss. Und die Westgewerkschaft hat das aber nicht getan. Der Vorstand der IG-Metall und die Tarifkommission haben sich durchgesetzt. Es gab Riesenproteste und eine Riesenenttäuschung. Das haben wir als Bündnis kritischer Gewerkschaften genau verfolgt. Und das ist nur ein Beispiel. Auch in anderen Bereichen gab es Enttäuschungen bezüglich der Gewerkschaftsarbeit, wo die Kollegen das Gefühl hatten, die machen die Lohnabschlüsse zu gering, die gehen nicht auf den Streikbedarf ein, sie verhalten sich bei Schließungen nicht entsprechend aktiv, sondern federn nur ab und organisieren keine Widerstände. Darum gab es ja dann auch diese relativ vielen Streiks, Straßenproteste und Betriebsbesetzungen bis 1994, die auch unabhängig von Gewerkschaften stattfanden. Bischofferode ist ja nur das bekannteste Beispiel, da hat die Gewerkschaft Chemie sogar für die Schließung von Bischofferode gestimmt, war eben ein Konkurrent von Kali Salz im Westen.

Bischofferode

Einmal war ich auch in Bischofferode und habe die Kumpels da ihre Hymne singen hören, der Steiger kommt, als sie den Hungerstreik gemacht haben. Das war klassische Arbeiterbewegung. Was haben wir gemacht? Unmittelbar im Zusammenhang mit Bischofferode hat sich eine Betriebsräte-Initiative gegründet. Und da waren auch wieder Teile von uns dabei, das überschnitt sich. Da waren viele Gewerke und Gewerkschaften vertreten, und die haben versucht, in Solidarität mit den Bergleuten auf die Chemie-Gewerkschaft Einfluss zu nehmen, die sich gegen die Bergleute gestellt hat. Und sie haben versucht, die Kumpels durch Solidaritätsstreiks zu unterstützen. Wir als Bündnis haben eigentlich nichts weiter machen können, als das alles bekannt zu machen. Wir haben relativ viel darüber geschrieben. Und einige von uns haben dann auch an diesem Marsch von Bischofferode nach Berlin teilgenommen. Also Hilfe symbolischer Art. Da war für uns nicht mehr viel zu machen, denke ich.

Das gemeinsame Ost-West-Projekt der Gewerkschaftskritik

"Und die Frage war, wie kann man diese Ostgewerkschafter darauf vorbereiten, dass sie sich nicht so rasch in dieses andere Modell einverleiben lassen? Das sie kritisch bleiben."

Wenn die DDR 1990 weiterbestanden hätte, denn es war ja im Januar noch nicht entschieden, dass die deutsche Einheit so rasch kommt, dann hätte auch sein können, dass die Gewerkschaften eigene Wege gehen. Also dass nicht diese Westgewerkschaften dominant werden und ihren Typ von Gewerkschaftsstruktur jetzt eins zu eins übertragen, sondern es etwas Eigenständiges gibt statt einfach aufzugehen in den DGB-Gewerkschaften. Aber dass es dahin gehen würde, wurde dann ab Januar, Februar, März schon ziemlich klar. Das hieß, dass man sich sehr rasch kümmern musste und überlegen, will man dieses Modell hier haben und was hat man dem noch entgegenzusetzen oder oder wie kann man diesen Prozess vielleicht noch ein bisschen steuern oder beeinflussen? Mit der IKG [Initiative Kritischer Gewerkschafter] saßen wir ja immer in diesem einen Büro zusammen und haben uns von West-Leuten erzählen lassen, wie die Situation in den Gewerkschaften ist, wo muss man aufpassen? Ich habe zum ersten Mal gehört, wie die eigentlich einen Streik führen, und wie das mit der Urabstimmung ist. Denn die kann durchaus zugunsten der Entscheidung der Streikkommission und des Vorstands und nicht der Basis ablaufen. Und die Frage war, wie kann man diese Ostgewerkschafter darauf vorbereiten, dass sie sich nicht so rasch in dieses andere Modell einverleiben lassen? Das sie kritisch bleiben.

Zusammenhalt durch gemeinsame Interessen

Ich benutze nicht den Begriff Zusammenhalt. Aber in den Strukturen, in denen ich da aktiv war und die ich ja zum Teil auch mitgegründet habe, gab es jedes Mal eine über bestimmte Differenzen hinweg funktionierende Gemeinsamkeit, ein gemeinsames Interesse. Partiell, für eine gewisse Zeit. Gut, und das kann man natürlich dann Zusammenhalt nennen. Das begann bereits mit der IUG, also im Herbst 89. Da war das politische Spektrum sehr breit! Als die Wahlen [9] waren und uns allen, mir auch, die Knie weich wurden, bekam ich einen Anruf von einem aus dieser Gruppe, es war ein Gärtner, ein sehr netter, lieber, der ganz aufgeregt und freudig sagte: „Wir haben gewonnen!“ Verrückt. Ich meine, ich wusste das nicht, ich habe das vielleicht geahnt, aber wir haben nie über so was gesprochen – er war halt CDU-Wähler, also Allianz für Deutschland-Wähler. Die IKG war schon stärker linkspolitisch, aber auch da war zum Beispiel diese eine gruselige Sektengruppe mit vertreten. Die hatten eine sehr gute, klare Kritik an Gewerkschaften und das war für diese IKG-Zeit eine wichtige Sache. Das heißt also, es gab immer ein sehr, sehr breites Spektrum, das für eine bestimmte Zeit Zusammenhalt und Gemeinsamkeit hatte, breite Bündnisse, die aber, wenn dieses gemeinsame Interesse vorbei war, auch wieder zerfielen.

Erläuterungen

[1]  Diese „Wahlbeobachtung“ wurde von der Opposition der DDR in einigen Städten durchgeführt. Sie konnten zeigen, dass das offizielle Ergebnis gefälscht ist. Die Bürger der DDR erfuhren darüber aus Westmedien, so wurde überhaupt bekannt, dass es eine Opposition in der DDR gab.

[2] Der Friedrichsfelder Friedenskreis war ein Treffen von Berliner DDR-Oppositionellen, die sich im Schutzraum der Kirche vor allem zu Diskussionen trafen. Beteiligt war auch die Initiative Kirche von unten.

[3] Mit "chinesischer Lösung" ist die gewaltsame Niederschlagung der Opposition gemeint, wie sie die chinesische KP mit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking und der anschließenden Massenverfolgung im ganzen Land im Frühsommer 1989 nach anfänglichem Zögern durchführte. Nach bisherigem Forschungsstand war diese Möglichkeit einer Reaktion der Herrschenden auch im Fall der DDR nicht unwahrscheinlich. Es wird nicht ausgeschlossen, dass es durchaus an wenigen Zufällen gehangen haben könnte, dass im Oktober 1989 nicht auf die Demonstrant*innen geschossen wurde.

[4] Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FdGB) war die Einheitsgewerkschaft der DDR.

[5] Volker Braun, Stefan Heym und Heiner Müller waren bekannte und durchaus kritische DDR-Schriftsteller, Braun und Müller zählen zu den bedeutendsten deutschen Dramatikern.

[6] Günter Schabowski war ein führender SED-Funktionär, zu jener Zeit Mitglied von Zentralkomitee und Politbüro der Partei. Historisch bekannt ist er für die Pressekonferenz am 9.11.1989, als er die Öffnung der Grenzen bekannt gab, die aber noch gar nicht geplant war.

[7] Die Kämpfe um die Schließung des Kaliwerks in Bischofferode zählen zu den bekanntesten Protesten gegen die forcierte Deindustrialisierung der ehemaligen DDR, siehe die Interviews im Bereich Soziale Kämpfe.

[8] Ursprünglich "Haus der Demokratie", ist ein vorher der SED gehörendes Bürohaus, das Ende 1989 oppositionellen Gruppen zur Nutzung übergeben wurde. Derartige Häuser wurden überall in der DDR eingerichtet.

[9] Die Wahlen zur Volkskammer der DDR im März 1990.