"Wir werden geschlossen, weil der Westen einfach hier den Osten platt macht, das war die Botschaft"

Erinnerungen eines ehemaligen Kaliwerkers, Betriebsrats und Aktiven der Kämpfe um die Rettung des Kaliwerks Bischofferode im Eichsfeld, Thüringen. Er berichtet von den Auseinandersetzungen mit westdeutschen Konzernen, der Treuhandanstalt und der Politik, aber auch von der Selbstorganisierung der Belegschaft, der Solidarität und der Institutionalisierung der Erinnerung an die Proteste.

ID: Bi03, Ort und Datum des Interviews: Bischofferode, 2.9.2021

"Das ist ne andere Welt" – Die Wende

Wie hab' ich die Wende erlebt? Am Anfang so, dass hier doch einige Proteste stattgefunden haben, kurz vor der Öffnung der Mauer. Ich vergesse nie den Tag, an dem Schabowski gesagt hat, die Grenze ist offen. Am andern Morgen, komme ich zur Frühschicht. Unten in der Werkstatt, da müssten wir mindestens 20 Kollegen sein, ich komme rein, und war fast der einzige. Der Meister war da und noch einer oder zwei. Ich sag, was ist denn jetzt los, haben die alle Urlaub? - „Nee, die sind alle heute Nacht rüber, die wollen sich gleich jetzt die Westseite angucken.“

In die Schlange an der Grenze wollte ich mich nicht anstellen, das war mir zu viel. Später haben wir 'ne Rundfahrt gemacht, bis nach Göttingen und wieder zurück. Ich hatte ja keine Leute, die ich da kannte. Wir haben uns das einfach mal angeguckt, uns einen gemütlichen Tag gemacht, das war's für mich dann auch. Danach bin ich lange gar nicht rüber gefahren. Ich selber war in den 80er Jahren zwei mal drüben. Ich war schockiert, denn wenn ich irgendwo hinkam, war alles verriegelt und verrammelt, überall waren Schlösser vor. Ich denk, was ist denn hier los? Sowas gab's bei uns nicht. Bei uns waren die Türen offen, selbst nachts waren sie offen, die Schlüssel lagen auf dem Fensterbrettchen, da konnte man reingehen. Das war alles ein bisschen komisch, anders. Wenn du in die Häuser reinkamst, überall eiskalt, hatten sie die Heizung immer runter gedreht, saßen mit dicken Sachen da. Ich sag', seid ihr verrückt? Wenn ich dann heimlich an der Heizung gedreht hab, hatten sie sie schon wieder zurückgestellt. Alles solche Begebenheiten. Ich habe gesagt, das ist 'ne andere Welt, ist nicht meine.

Erste Ost-West-Betriebsrats-Kontakte

"Da hat ja noch keiner Konkurrenzgedanken gehabt"

Na jedenfalls, als die Wende kam, war ja Betrieb hier, Bischofferode war ein Vorzeigebetrieb. Das erste, was neu für uns war, war, dass wir einen Betriebsrat wählen mussten. Kannten wir ja gar nicht, wir hatten FDGB, weiter nichts. Und da sagten sie alle, „Mensch, lass dich aufstellen!“ Die Wahl war im Dezember 1990. Ich hatte die zweitmeisten Stimmen gekriegt. Und dann hatten sie vorgeschlagen, ich sollte den Vorsitzenden machen, ne. Ich sage, ne Leute, das ist Blödsinn. Hier sind Diplomingenieure dabei und so weiter, und ich stehe dem vorweg, das ist mir zu dumm, das mach' ich nicht. Stellvertreter ok, aber Vorsitzender mach ich nicht, denen da laufend vorzuhalten, was sie zu machen haben.

Dann hab' ich sofort den Kontakt gesucht zu Betriebsräten aus'm Westkonzern, von Kali+Salz. Wir hatten ja keine Befindlichkeiten damals, und hatten kurze Zeit später dann ein Treffen mit Betriebsräten von Neuhof-Ellers, das liegt in der Nähe von Fulda, ein Kalibergwerk von Kali+Salz, und hatten dort einen Tag lang Gespräche miteinander. Wir haben den ganzen Tag dort verbracht. Erst dachte ich: Oh, da haben wir aber noch viel nachzuholen, wunderbare Fassade! Aber als wir dann reinkamen und uns drin umgeguckt haben, da hab' ich gesagt, da können wir zwei mal mithalten. Auf der Heimfahrt hat eigentlich jeder gesagt: die können uns nie das Wasser reichen. Das K2O-Gehalt des Salzes dort war ein Drittel geringer als bei uns. Das heißt, ich muss viel mehr Rohsalz rausholen aus der Erde, um das gute Salz zu kriegen. Ökonomisch eigentlich Unsinn. Auch bei allem anderen, was da war, waren die uns gegenüber wirklich im Nachteil. Wir haben damals gesagt, dass wir vor denen niemals Angst zu haben brauchen. Aber damals im Frühjahr 1991 hat ja noch keiner Konkurrenzgedanken gehabt. Wir haben natürlich Vergleiche gezogen, um zu sehen, wo stehen wir eigentlich, was produzieren die, wie viel Fördermenge, wie ist der Salzgehalt, was stellen sie für Produkte her oder wie ist die Beschäftigtenzahl in der Fabrik oder wie ist die Beschäftigtenzahl unter Tage ... Danach hatten wir aber die Kontakte eigentlich nicht mehr. Dann hat jeder um sein eigenes Überleben gekämpft. Normalerweise hätte Neuhof-Ellers damals überhaupt keine Chance gehabt, zu überleben. Aber dadurch, dass im Osten alles weggebrochen ist ...

„Da ist doch was faul“ – Die Abwicklung kündigt sich an

Und was war das erste, was wir erleben mussten? Sie haben erst mal unseren ganzen alten Vorstand, unserer Mitteldeutschen Kali AG Sondershausen, entlassen und uns Leute vorgesetzt mit Biographie vom Westen. Das war schon ein bisschen komisch – wir haben uns gefragt, was soll denn jetzt passieren? Und dann kamen innerhalb kürzester Zeit die ersten Schließungen. Wir hatten sechs Schächte hier in Nordthüringen, und da sind innerhalb kürzester Zeit vier von sechs geschlossen worden. Und wir hatten hier als Betriebsräte auch nur mit Abbau zu tun, mit Personalabbau. Wir hatten viele Beschäftigte, ob in der Küche oder ob in der Reinigung oder in anderen Bereichen, die mit Gewinnung oder Produktion nichts zu tun haben, da war uns klar, davon müssen wir uns trennen, wenn wir eine Chance haben wollen, wettbewerbsfähig zu werden. Das heißt, wir haben in den ersten Jahren als Betriebsrat nur zu tun gehabt, Gespräche zu führen mit Kollegen, die entlassen werden sollten und mussten. Wir waren 1500 und sind bis 1993 innerhalb von drei Jahren runter auf 690. Das ist schon ein Aderlass! Und ich hab' von vornherein gefordert, von jedem von uns im Betriebsrat, wir sprechen jeder auch mit den Leuten. Ich will mit denen Auge in Auge reden. Ich will mich nicht drücken und woanders hinsetzen, ich muss mit den Menschen auch zukünftig in Kontakt bleiben.

Da hat's harte Kämpfe gegeben. Auch hier im Betrieb. Das war die Anfangszeit, wir waren uns sicher, der Betrieb hat eigentlich alle Bedingungen, um zukünftig in diesem neuen System wettbewerbsfähig zu sein. Wir hatten bestausgebildetes Personal, wir haben alle Leute selber ausgebildet, in sämtlichen Berufsgruppen, im Kaufmännischen, im Handwerklichen, im Bergmännischen. Und das wichtigste war, wir hatten ja vor allem in nord- und westeuropäische Länder geliefert, was Devisen brachte. Wir dachten, bevor wir schließen, müssen viele andere schließen. Und wo wir gesehen haben, dass vier geschlossen wurden, da wussten wir, dass natürlich auch ein, zwei dabei waren, die schon zu DDR-Zeiten nicht noch lange produzieren hätten können. Zum Beispiel, weil die Lagerstätte auslief oder einfach die Investionssumme zu hoch gewesen wäre, das muss man ehrlicherweise sagen. Deswegen gab es in diesen Betrieben auch keinen großen Druck – wir sind trotzdem hingegangen als Kollegen und haben sie unterstützt, dass sie wenigstens einen vernünftigen Sozialplan kriegen. Aber als dann kurz vor uns das Werk in Roßleben geschlossen wurde, da haben wir gesagt, hier stimmt was nicht. Das Werk hat noch für 100 Jahre Salzvorräte, und die machen diesen Schacht so schnell zu? Da ist doch was faul. Da haben wir gesagt, jetzt müssen wir aufpassen, hier ist irgendwas im Busch.

Besetzung und Demonstrationen – Der Beginn des Arbeitskampfes

Wir haben jedenfalls damals gesagt, wir lassen uns das so nicht bieten. Also haben ab April, 7. April war's, glaub' ich, rund um die Uhr die Wache besetzt. Im Prinzip haben die Kollegen eine Schicht gearbeitet, eine Schicht zu Hause, eine Schicht an der Wache gesessen. Und man kann sagen, 70 bis 80% der Kollegen haben mitgemacht, nicht bloß 'ne Hand voll Leute. Ein paar haben sich ausgeklinkt, die haben gesagt, wir sind sowieso kurz vor der Rente, uns geht's nichts an. Aber die Mehrheit hat mitgemacht, weil wir nicht zulassen wollten, dass uns Aggregate, Maschinen oder was weiß raustransportiert werden, dass wir gar nicht mehr arbeiten können. Und wieder zu Protesten aufgerufen. Also ich weiß gar nicht wo, wir waren in Bonn damals vorm Bundestag, haben dort den ganzen Tag Bonn unsicher gemacht. Wir waren in Düsseldorf, wo die Treuhand getagt hat. Wir waren in Erfurt vor'm Landtag, wir waren in Köln.

Da hat Kali+Salz in Kassel aufgerufen zur Demonstration zur Schließung von Bischofferode, das muss man sich mal vorstellen. Pro-Schließungs-Demonstration, damit Bischofferode geschlossen werden soll! Das Unternehmen hat die Kollegen mit den Bussen rangekarrt nach Kassel mit dem Hinweis, wer nicht mitkommt, der läuft Gefahr, dass er gekündigt wird. Damit sie ihren Protest deutlich machen. Wir wollten erst alle Mann dort hin, dann hätte es wahrscheinlich Riesen-Straßenkämpfe gegeben. Und dann dachten wir, dass können wir nicht machen. Wir können den Arbeitskampf nur dann durchhalten, wenn er nicht kriminalisiert wird. Wenn er kriminalisiert wird, ist das Ding zu Ende, dann greifen die ein, dann sitzen wir vor Gericht, und dann ist Feierabend. Also haben wir dort eine Delegation Frauen hingeschickt, mit Transparenten. Und die sind als Gegendemo aufgelaufen zu den anderen Protesten. Die Frauen hat sich keiner getraut anzugreifen. Es war aber in der Presse, es war in den Medien.

Schachtschließung mit finsteren Methoden

„Weil ja jeder mitgekriegt hat, dass hier 'ne Schweinerei am laufen ist, wenn sie gesunde Betriebe dicht machen“

Jedenfalls haben wir gemerkt, es ist ein ganz unsauberes Spiel, wir konnten es nur versuchen, dass wir es politisch lösen konnten. Wir wussten, dass der Druck da war in der Bevölkerung. Wir haben alle gehofft, dass der Bundestag vielleicht doch anders entscheidet. Wir hatten ja einen potenziellen Käufer! Der Peine, ganz integerer Mann, der damals die Geschäftsführung von der Deusa von Bleicherode hatte, also mit dem Kali schon verwachsen war, der wusste, was Sache ist, der hat immer gesagt, wenn ich Bischofferode kriege, bin ich zeitlebens saniert. Mehr Geld kann ich überhaupt nicht verdienen, ich beteilige euch sogar an den Gewinnen. Der sagte, im Moment macht Ihr noch Minus, aber wenn der Kalipreis bei 150, 160 D-Mark ist, dann bin ich schon bei Null. Und der Preis wird weiter steigen.

Daran musste ich wieder denken, als ich viel später einmal zu einer Diskussionsrunde eingeladen war. Es ging um Probebohrungen, wo ich was zu den Hintergründen von Kali erzählen sollte. Und dann hat man mich gefragt, ob ich mich denn auch zu der Vorgeschichte äußern würde wenn ich schon mal da war. Und dann hab' ich da bestimmt 20 Minuten da gesprochen und hab' riesen Beifall gekriegt in der Runde. Die von den Ministerien saßen da mit bösen Gesichtern. Und da waren hinter mir an der Wand die Ergebnisse von Kali + Salz angebracht. Ich hab mich umgedreht und mich gefreut. Endlich! Endlich mal Zahlen, gut, dass wir das heute mal wissen, was Kali + Salz inzwischen für 'ne Tonne K2O kriegt. Peine hat damals gesagt, 160 D-Mark und wir sind in der Gewinn-Zone. Und hier muss ich lesen, dass die Kali+Salz AG, das war im Jahr 2008, für eine Tonne K2O sage und schreibe 890 Euro bekommt. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen! Wie Peine doch recht gehabt hat, wie steinreich der geworden wäre, wenn er Bischofferode gekriegt hätte! Und wir hatten noch für über 40 Jahre Salzvorrat in der Lagerstätte! Die wurde jetzt verkauft an ein australisches Unternehmen, weil das die hochqualifizierteste Lagerstätte in ganz Europa ist. Und die fangen jetzt wieder an, erste Probebohrung zu machen. Und da soll man nicht manchmal Wut oder Galle kriegen?

Und dann gab's noch die Gespräche in Brüssel. Ich hatte ihn ja vorher noch angeschrieben, den Karel Van Miert, der für die Fusion zuständig war. Peine war auch dabei, und einer von unserer Geschäftsleitung, einer vom Betriebsrat. Die bei dem Gespräch waren, kamen hoffnungvoll nach Hause, weil Karel Van Miert gesagt hat, das ist doch kein Problem, da ist ein Käufer, da ist ein gesunder Betrieb, das sind bloß 10 % Marktanteil, die können die Fusion machen, aber Peine kann doch den Betrieb übernehmen, das ist für ihn gar kein Problem. Die waren aber noch nicht zu Hause im Auto, da kam schon durch die Nachrichten, dass Deutschland das verhindern wird. Das käme überhaupt nicht in Frage. Ja klar, wie will ich auch gegenüber der Öffentlichkeit erklären, dass die Fusion über 1 Milliarde kostet, und die ersten fünf Jahre übernimmt die Treuhand einen Großteil der anfallenden Verluste, gestaffelt, im ersten Jahr 90%, im zweiten 85% und so weiter. Das nämlich stand damals in dem geheimen Konzept der Fusion: sie übernimmt die Verluste unabhängig von der Ursache. Wo wir damals am 17. Mai die Leipziger Straße vor der Treuhand dicht gemacht haben, war ich oben mit bei den Gesprächen mit Dr. Schucht, der für die Fusion verantwortlich war. Und der hat sich vehement verweigert. Peine sei viel zu klein, der könne das gar nicht, ein lumpiger Spediteur, mehr sei der nicht, der könne doch keinen Betrieb leiten. Das kommt gar nicht in Frage, gibt's nicht.

Der Hungerstreik

Der Hungerstreik begann am 1. Juli. Das war der Tag, wo zuvor der Treuhand-Ausschuss im Bundestag dem Fusions-Konzept mehrheitlich zugestimmt hatte. Und da haben die gesagt, jetzt reicht's. Ich hab's selbst nicht mal gewusst, dass die in den Hungerstreik treten wollten. Ich bin morgens ins Büro gekommen und da sagten sie mir, Du, da sind zwölf Mann, die sitzen jetzt hier drüben, die haben gesagt, es reicht, wir gehen in den Hungerstreik.

Ich bin dann in der Zeit jeden Tag mindestens zwei mal da drin gewesen, wenn ich hier war, vor Ort. Und ich habe auch in dem Jahr nicht einen einzigen Tag Urlaub genommen, die hab' ich alle verfallen lassen. Bis zum Ende, wenn ich zu Hause war, war ich nur zum Essen zu Hause, mal kurz der Frau Guten Tag gesagt und dann wieder hoch. Im Prinzip spielte sich das ganze Jahr nur aufm Schacht ab.

Die haben den Hungerstreik im Prinzip fast 2 Monate durchgehalten. Natürlich nicht ein oder zwei Monate in Folge, sondern es sind insgesamt knapp über 100 Menschen gewesen, die hier sich beteiligt haben. Und zuletzt, ich glaube es war der 1.September, als die letzten paar dann gesagt haben, wir machen nochmal einen Protestmarsch nach Berlin, da haben zwei von den Hungerstreikenden die ganze Etappe durchgehalten bis Berlin. Da hab' ich gestaunt. Das waren zähe Burschen, drahtige junge Leute. Die hatten schon mindestens zehn, zwölf Tage auf der Pritsche gelegen. Die Leuten haben dann entweder in Kirchen oder in Schul-, Sporthallen, übernachtet. Es war immer so ein Häufchen von 20,30. Auch Leute aus den Regionen haben sich mitunter für eine Etappe angeschlossen. Da waren wir auch mal 50,60 Leute. Und später war dann nochmal 'ne Großdemo, am 19. August, auf'm Alexanderplatz. Und wir haben zum Jahresende nach wie vor immer noch den Betrieb besetzt. Irgendwann musste ja mal 'ne Entscheidung fallen.

Die Angst des Aufsichtsrates

"Und einer hat sich in den Weg gestellt, und wollte mich nicht durchlassen."

Im November sollte der Aufsichtsrat der mitteldeutschen Kali-AG nochmal tagen. Und da war ich ja Mitglied. Die Story vergess' ich mein Leben nicht. Ich kriegte 'ne Einladung zugeschickt, wo normalerweise draufstehen muss, was die Tagesordnung, der Ort und alles ist. Da war aber bloß die Einladung zur Aufsichtsratssitzung, ich möchte mich bitte morgen früh in Frankfurt am Main unter der und der Nummer in dem Hotel beim Aufsichtsratvorsitzenden melden. Aber wo die Sitzung stattfindet und was weiter geplant war: nichts. Und ich hatte ja schon den Kraftfahrer vom Werk bestellt, der mich nachts um eins chauffieren musste, damit ich um halb fünf auch in Frankfurt am Main sein konnte. Und da hab' ich mich ins Bett gelegt. „Du kommst hier nicht raus“, hat meine Frau gesagt, „wenn du nicht wenigstens ein paar Stunden geschlafen hast.“ Ich war noch keine halbe Stunde im Bett, da klingelte das Telefon, da rief der Aufsichtsratsvorsitzende an: „Ich möchte gerne ihren Mann sprechen.“ Und da hat meine Frau gesagt, ich werde meinen Mann jetzt nicht wecken, der hat den ganzen Tag noch nicht geschlafen, und ein paar Stunden Schlaf braucht er. Wenn sie was wollen, dann können sie das mit ihm besprechen, wenn sie dann in Frankfurt sind, ich werde ihn jetzt nicht wecken. Und dann kam von ihm so 'ne bissige Bemerkung: „Eins wollte ich Ihnen noch sagen, vielleicht sollten sie zukünftig ihren Mann nicht zu oft abends raus lassen, er hat nicht nur Freunde in Deutschland.“ Und dann hat sie gemeint, „Professor Steger, soll das 'ne Drohung sein?“ – „Nein, nein, nein, das war doch bloß ein gut gemeinter Hinweis.“ Mit solchen Mitteln hat man gearbeitet.

Ich hatte das Fernsehteam vom MDR angerufen, auch das ZDF und andere waren schon da mit den Kameras. Als ich in Frankfurt angekommen bin, hab ich dann in dem Hotel, wo der Professor Steger nächtigte, angerufen. Ich sage, Professor Steger, wo soll ich denn nun hin, ich bin hier in Frankfurt, wo ist denn die Sitzung? Und er: „Sie können zu mir kommen, in's Hotel, dann besprechen wir das, können 'ne Tasse Kaffee zusammen trinken.“ Ich sage: Professor Steger, die Menschen, mit denen ich Kaffee trinke, die such' ich mir noch selber aus, aber Sie gehören bestimmt nicht dazu. Ich sage, wenn ich jetzt nicht von ihnen 'ne Antwort kriege, wo ich hin soll, dann werde ich das juristisch angreifen. Weil mit Aufsichtsratssitzung und normaler Ladung hat das nichts mehr zu tun. „Jajaja, kommen sie dort an das Terminal am Flughafen und wir steigen dort in den Flieger ein und fliegen dann zur Aufsichtsratssitzung.“

„Bischofferode ist überall“ – Solidarität im Arbeitskampf

Das war im November. Und da war dann bekannt geworden, dass die EU, also Karel van Miert, zähneknirschend, wie man so schön sagt, die Fusion genehmigen musste. Hatte so viel Druck von Deutschland gekriegt. Ich hab' ihn später dann mal in Berlin getroffen persönlich. Er sagte, sie müssen natürlich verstehen, dass ich keinen Ross und Reiter nennen kann, aber sie werden mir nicht glauben, wer alles von Deutschland zu mir ins Büro gekommen ist, um die Fusion durchzudrücken, mir blieb am Ende keine andere Wahl. Er sagte, aber ich habe klar und deutlich gesagt, diese Wettbewerbsklausel, die ist vom Tisch. Da gab's doch damals noch die Klausel, dass die ersten 10 Jahre nach der Fusion kein Altstandort verkauft werden durfte, keine Lagerstätte verkauft werden durfte und nicht mal Streusalz produziert werden durfte hier im Osten, in irgendeinem Betrieb. So war das in der Fusion festgeschrieben. Hat Brüssel versagt, Deutschland hat sich nicht dran gehalten, hat's trotzdem durchgezogen. So isses. Das sind die Fakten.

Wir haben ja erlebt, dass wir sehr, sehr viele Unterstützer hatten, Tausende von Menschen, die uns Solidarität bekundet haben, die hier vor Ort gewesen sind. Sämtliche Gewerkschaften haben uns zur Seite gestanden, außer unsere eigene. So bitter wie's ist. Und der Bodo Ramelow war ja damals Vorsitzender von Handel, Banken und Versicherungen war damals immer mit vor Ort. Wir haben ganz viele von damals PDS, heute Linke hier gehabt. Und das im katholischen Eichsfeld, wo 90% CDU gewählt hat. Aber die haben sich niemals hingestellt und wollten uns erklären, was wir machen sollen oder so, uns zu dirigieren oder sowas. Gysi war zig mal hier und hat vor der Belegschaft gesprochen, war im Betriebsratsbüro, hat sich viel Zeit genommen. Wir hatten da das erste Mal die Erfahrung gemacht, dass das die einzigsten politische Akteure waren, die uns ehrlich unterstützt haben in der Zeit. Ich vergesse nicht, da kam ein FDP-Abgeordneter von Thüringen rein, ein gewisser Herr Kniepert: „Ich möchte mich mal kurz über die Situation erkundigen, ich hab' aber nur 20 Minuten Zeit.“ Ich sage, Herr Kniepert, 20 Minuten Zeit? Wissen sie, ich hab' gar keine Zeit, da ist die Tür. Und dann hab' ich ihn rausgeschmissen. Wenn einer so ankommt, dann ist er bei mir genau richtig. Hat er zwar protestiert, das hat ein Nachspiel. Interessiert mich doch aber nicht. Ist er dann abgepfiffen. Und Bodo Ramelow war nur einer von den vielen Gewerkschaftssekretären, die hier waren, die uns auch mit Computern, mit Druckern und allen möglichen Materialien unterstützt haben.

Wir waren auf so vielen Demos eingeladen, die ähnliche Arbeitskämpfe in Thüringen hatten. "Thüringen brennt" war damals so ein Thema, weil ja noch mehrere Betriebe um ihre Arbeit gestritten haben. Wir waren überall – das ist auch noch auf dem Bild zu sehen: "Bischofferode ist überall". Da waren wir bei den Zella-Mehlisern, Faserwerk, und haben denen da von unserem Spendengeld 5000 D-Mark überreicht. Als damals die IGBE, also ihre und unsere Gewerkschaft, da mit den Fahnen ankamen, sind unsere Kollegen hin und haben denen die Fahnen aus der Hand gerissen und in die Gebüsche geschmissen. Und als der von der Gewerkschaft reden wollte, haben wir den ausgepfiffen. Der hat mir das noch Jahre lang nachgetragen. Aber was soll's, es hat Gott sei Dank keine körperlichen Dinge gegeben, nur verbal, akustisch haben wir uns da gezeigt.

„Wenn ich in Eure Gesichter gucke, dann sehe ich, dass ihr eigentlich fertig seid“ – Das Ende des Kampfes

"Wenn man die Kollegen nicht hautnah informiert, dann bricht das Vertrauen weg, und wenn das Vertrauen weg ist, dann kannst du keinen Arbeitskampf führen."

Zu der Zeit standen wir vor der Situation: die Fusion ist genehmigt, weiter arbeiten ab 1994 dürfen wir nicht, weil die Sprengerlaubnisscheine und all sowas weggefallen waren. Und wer will denn da unten sprengen ohne Genehmigung! Also blieb nur eine Wahl, entweder weiter den Betrieb besetzen und alles dicht machen und sagen, wir geben hier nicht auf. Aber die Chance war einfach zu gering. Zweitens hatten die meisten nach einem Jahr Arbeitskampf auch keine Kraft mehr. Ich habe jeden Tag mittags, wenn die Kollegen aus der Grube ausgefahren sind, vorm Werkstor gestanden und sie informiert, was der aktuelle Stand ist. Wenn man die Kollegen nicht hautnah informiert, dann bricht das Vertrauen weg, und wenn das Vertrauen weg ist, dann kannst du keinen Arbeitskampf führen. Einen Arbeitskampf mit 10 Mann gegen 100, die keine Lust haben, geht ja nicht. Es muss umgedreht sein. Und das muss ich meinen Betriebsratskollegen und auch den anderen lassen, die haben sich voll eingebracht in der Zeit.

Ende November, als entschieden war, dass die Fusion jetzt genehmigt war, kam Bodo Ramelow zu uns ins Betriebsratsbüro und sagte: „Jungs ihr habt einen Arbeitskampf geliefert, wie ich ihn noch nie erlebt habe. Das kenn' ich nicht mal aus meinen westdeutschen Zeiten, dass Leute irgendwo so hartnäckig drangeblieben sind, und immer so fair. Das hat mich beeindruck. Es wäre jetzt das schlimmste, wenn ihr hier enthauptet rausgehen müsstet. Ich kann euch nur anbieten, dass ich als euer Vertreter vom Betriebsrat zur Treuhand gehe und so viel wie möglich für euch raushole. Ihr müsst die Entscheidung treffen, ob aussteigen oder weiterhin den Betrieb besetzen. Wenn ihr diese Entscheidung trefft, werde ich alles versuchen, so viel wie möglich für euch rauszuholen, aber dann ist der Arbeitskampf beendet.“

Zusammenhalt durch Erinnerung

Am Anfang war der Zusammenhalt immer noch da. Es hat sich ja jeder mit Bischofferode identifiziert, der nun hier war. Natürlich haben fluchtartig viele die Region verlassen. Logisch, wenn hier keine Arbeit mehr ist. Bischofferode allein hat innerhalb dieser Zeit über 1000 Einwohner verloren. Wir hatten hier noch das Glück, dass wir hier an der innerdeutschen Grenze wohnen. Und die Firmen drüben waren froh, dass sie hier billige Arbeitskräfte kriegten. Denn die haben ja unsere Leute immer noch schlechter bezahlt als ihre eigenen.

Viele haben nachher frustriert gesagt, es hat alles kein Zweck, wir wollen damit nichts mehr zu tun haben. Das war so bitter am Schluss. Viele, gerade die, die sich engagiert hatten, waren auch die ersten, die weggegangen sind: „Was wollen wir hier, hier haben wir keine Arbeit, wir müssen uns was suchen.“ Das waren engagierte Leute, die wollten nicht in der Arbeitslosigkeit in der Hängematte liegen daheim. Und die fehlten uns natürlich.

Wir hatten damals ja nach der Schließung gesagt, Leute, wenn sie uns schon die Arbeit genommen haben, uns kaputt gemacht haben. Aber unsere Tradition wollen wir uns nicht nehmen lassen. Ich sage, wisst ihr was, lasst uns einen Verein gründen, auch weil wir ja damals noch Spendengelder übrig hatten. Und bevor das Unternehmen GVV sagt, das sie das einkassieren, haben wir das frühzeitig dem neugegründeten Thomas-Müntzer-Kaliverein auf's Konto übertragen. Das war gleich im Februar 94.