Das einschneidenste Erlebnis war für mich der erste Hitlergeburtstag, den wir hier erlebt haben. Das war im April '90, ich glaube der 20. April. Und da gab's eine Ankündigung, dass rechte Gruppen bis nach Ahrensfelde in die Wohnheime marschieren wollten. Und ich war damals Wohnheimbetreuerin, und da hatten wir natürlich Angst, dass da was passiert. Wir haben dann das Wohnheim schützen lassen. Da kam tatsächlich Polizei, die sich neben das Wohnheim gestellt hat. Und wir haben die Vietnamesen angewiesen, nicht draußen rumzurennen. Aber das war für mich das einschneidenste Erlebnis nach der Wende – Was kommt da auf uns zu? Die Maueröffnung und so, das war für mich nicht so einschneidend, sondern dieses eine Erlebnis war für mich eigentlich eine Schrecksekunde: Was kommt jetzt?
Praktische Solidarität für Bleiberecht und gegen Rassismus
„Was kommt jetzt?“ – Das einschneidenste Erlebnis nach der Wende
„Wenn wir nicht zugucken wollen, wie die Vietnamesen einfach mal nach Hause gehen müssen“ – Der Beginn der Rechtsberatung für ehemalige Vertragsarbeiter*innen
Nicht lange danach haben wir eine Einladung gekriegt zu einer "Vietnamkonferenz". Da hat die evangelische Kirche, deren migrationspolitische Abteilung, eine Tagung vorbereitet, mit allen, von denen ihr bekannt war, die sich engagiert haben. Vor der Maueröffnung oder nach der Maueröffnung. Und die kamen dann auch – aus der ganzen ehemaligen DDR Leute, insbesondere aus dem kirchlichen Bereich. Und dort haben wir einen Vortrag gehört von einem Rechtsanwalt, der uns erzählt hat, was in Vorbereitung ist in Bezug auf den Umgang mit den vietnamesischen Vertragsarbeitern und mit den Vertragsarbeitern allgemein. Und wie die juristischen Folgen sind. Und dabei ist uns einfach klar geworden, dass wir irgendwas tun müssen, wenn wir nicht zugucken wollen, wie die Leute einfach mal nach Hause gehen.
Und wir haben dann darüber gesprochen: Was können wir eigentlich tun? Und dann hieß es, wir müssten eigentlich Beratung machen. Dass wir überhaupt erstmal aufklären: Welche Rechte haben sie? Welche Pflichten haben sie? Und dann bin ich am Morgen, noch bevor wir den zweiten Tag der Tagung hatten, ins Wohnheim gegangen (ich wohnte gleich hinter dem Wohnheim, wo ich auch gearbeitet habe) und habe mit dem Heimleiter gesprochen. Und der hat uns den Kellerraum zur Verfügung gestellt, wo wir Beratung machen konnten. Für ihn war es positiv, denn die Betriebe haben sich aus dem Job „Betreuung“ rausgezogen. Und dann bin ich wieder zurück zu der Tagung und hab dort die Neuigkeit mitgebracht: Ich habe einen Beratungsraum! Waren alle total perplex, wie ich einen Beratungsraum aus dem Hut zaubern konnte. Und dann haben wir verabredet, dass wir Material vom ausländerpolitischen Runden Tisch bekommen, die Akten, rechtlichen Richtlinien und so weiter.
Und es gab auch Briefverkehr zwischen Vietnamesen, die nicht in Berlin waren und dem Büro der Integrationsbeauftragen. Und für die haben wir dann Briefe übersetzt und Antworten geschrieben im Auftrag des Büros, um die zu informieren. Und die Übersetzung hat mein Kollege gemacht. Der hat hier studiert, wohnte mit seiner Freundin in einem kleinen Zimmer, und hat auf so einer kleinen Reiseschreibmaschine den Briefverkehr für das Büro der Ausländerbeauftragten der Noch-DDR gemacht.
Und dann hat sich das so hingezogen und wir haben gedacht: Irgendwie wird das nicht so richtig angenommen, die Beratung. Doch dann machten wir was zum Thema „Währungsunion“. Und da ist der Knoten geplatzt. Denn alle wollten natürlich wissen: Was passiert jetzt mit unserem Geld? Können wir 1:1 tauschen? Können wir schlechter tauschen? Und dann war es voll. Die haben Schlange gestanden bis in die elfte Etage, um zu wissen, was mit ihrem Geld passiert. Und ab da war dann auch die Beratung sehr stark frequentiert. Da haben wir dann auch einen Raum bekommen im Wäschetrockenraum – da gab's so einen Durchgang in der neunten Etage, ein Wäschetrockenraum, vielleicht vier Quadratmeter. Und dann haben wir uns vom Sperrmüll einen Schreibtisch besorgt und so eine tolle große Tafel. Und wir haben ein bisschen Deutschunterricht gemacht. Und dann haben wir alles gesammelt, was es an Richtlinien, Gesetzen und so weiter gab.
Die erste große Sache, die wir gemacht haben, war das Thema „Mietpreise“. Die Mietpreise waren mit der Währungsunion nicht mehr subventioniert. Die sind dann von 50 DDR-Mark auf 120-130 für einen Bettenplatz gestiegen. Und dagegen haben wir geklagt. Am Schluss gab es einen Vergleich.
Gleichzeitig, als diese ganzen Sachen waren, sind auch ganz viele Vertragsarbeiter aus Osteuropa gekommen, nicht nur aus der ganzen DDR, und haben sich beraten lassen, was sie jetzt machen können. Und die Leute sind einfach nur zusammengerutscht, haben sich irgendwie Matratzen organisiert und haben irgendwie in diesem Wohnheim dann mitgehaust.
„Wovon sollten sie leben?“ – Kündigungen, Lohnbetrug und Ausreise
Und dann ging's um die Kündigungen und die Nullstunden-Kurzarbeit. Wovon sollten die Vertragsarbeiter leben? Die Behörden waren der Meinung: Die kriegen nichts. Die sollen zum Sozialamt gehen. In der Zwischenzeit gab es aber dieses veränderte Regierungsabkommen. Mit dem Text vom Regierungsabkommen – was die Behörden nicht hatten – sind wir in die Behörden gegangen und haben gesagt: Hier, Sie sind verpflichtet, zu zahlen. So haben wir dafür gesorgt, dass die Leute von irgendwas leben konnten. Aber nicht alle haben den Weg zu uns geschafft. Wir waren einfach mal in Berlin, nicht überall. Und dadurch ist dann das mit dem Zigarettenhandel so hochgekommen. Weil die Leute einfach mal von irgendwas leben mussten. Für etliche DDR-Bürger waren das auch „Solizigaretten“. Die haben ganz gezielt und bewusst die Zigaretten gekauft. Nicht alle wussten, dass das illegal ist. Teilweise wurden sogar Zigaretten auf dem Wochenmarkt verkauft. Jedenfalls, es gab viele Deutsche, die ganz gezielt diese Zigaretten gekauft haben und die nannte man im Volksmund „Solizigaretten“. Es gab auf den Märkten auch etliche DDR-Bürger, die, wenn die Polizei kam, die Zigaretten versteckt haben für die Vietnamesen. Beziehungsweise auch in ihren eigenen Kellerräumen, dass die Polizei die nicht entdecken konnte.
In den Betrieben kam diese Kündigungswelle, ohne dass die Leute wussten, welche Rechte sie haben. Sehr oft haben die Betriebe einfach verschwiegen, welche Rechte sie haben. Manche haben sogar den vietnamesischen Gruppenleitern Geld dafür bezahlt, dass die dafür sorgen, dass alle 100 Prozent ausreisen. Um sicherzustellen, dass alle ausreisen, wurde das Geld oft erst im Transitraum ausgezahlt. Und der Betrieb hat auch das Wechseln übernommen und abgeschriebene, kaputte Möbel noch von dem Geld abgezogen. Die Betriebe haben oft das so organisiert, dass die Leute bis zum Freitag gearbeitet haben. Am Sonnabend konnten sie dann ihre Sachen packen und Sonntag mussten sie zum Flughafen. Aber denen standen drei Monate zu, ihre Ausreise zu organisieren, und zwar bezahlt! Das wurde in der Regel durch die Betriebe unterwandert.
„Fahrt mal lieber nach Hause, hier wird's ganz schlimm.“
Das Gros der Leute ist ausgereist, weil sie nicht wussten, was ihre Rechte waren und was noch kommen würde. Denn es gab auch Betriebe, die mit der Nazikeule argumentiert haben. Die gesagt haben: „Jetzt kommt der Kapitalismus und jetzt kommen die Nazis und jetzt kommen die Rassisten. Fahrt mal lieber nach Hause, hier wird's ganz schlimm.“ Aufgrund dessen sind dann auch viele nach Hause gefahren. Mit dem Zigarettenhandel und mit der unsicheren Situation kam dann auch viel Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Die Vietnamesen konnten nicht mehr Abends auf die Straße gehen. Die Betriebe haben sie dann teilweise im Betrieb schlafen lassen, damit sie nach der Spätschicht nicht auf die Straße müssen. Dann kauften viele Vietnamesen auch alte Autos, damit sie sich gegenseitig transportieren können.
„Da sind wir mit zur Ausländerbehörde“ – Kämpfe um den Aufenthalt
Mein Kollege hat damals schon immer gefragt: Was kann man machen, dass die Leute bleiben können? Und dann haben wir hier einen sehr engen Kontakt zu damals dem Bündnis '90 gepflegt und die haben uns geholfen, Gutachten erstellen zu lassen über die Rechtssituation von Vertragsarbeitern. Uns ging es damals um die Gleichstellung. Gastarbeiter und Vertragsarbeiter. Die Rechte der Vertragsarbeiter waren wesentlich höher als die der Gastarbeiter. Die Vertragsarbeiter hatten das Recht auf Sozialleistung, auf Wohnraum, auf Arbeitserlaubnis, auf Gewerbe. Aber alles nur im Osten. Für diese Rechtssache war die Grenze noch bis '97 zu. Anfang '92 haben wir alles vorbereitet für den Kampf um die rechtliche Gleichstellung der Vertrags- und Gastarbeiter. Wir haben Widersprüche eingelegt gegen den erteilten Aufenthaltsstatus, der damals der schlechteste Status war, den man haben konnte und befristet war. Man wollte sicherstellen, dass alle irgendwann, wenn der Aufenthalt, also der ursprüngliche Aufenthalt, abgelaufen ist, nach Hause gehen.
1991 kam das neue Ausländergesetz für die alte und neue Bundesrepublik, und mit ihm trat auch dieser schlechteste Aufenthaltsstatus für alle in Kraft. Da sind wir mit zur Ausländerbehörde und haben da ordentlichen Stunk gemacht, weil die bestehenden Rechte nicht erfasst wurden in diesem Stempel. Und dann wurde zusätzlich in den Pass reingeschrieben: Selbstständige und unselbstständige Erwerbsarbeit nicht gestattet, außer im Beitrittsgebiet. Das heißt, alle Rechte, die mit der Veränderung des Regierungsabkommens den Vertragsarbeitern gegeben wurden für das Beitrittsgebiet, galten weiter, aber nicht im Westen. Das heißt, unsere Stadt war nach wie vor geteilt, aber unser Land auch. Aber wir haben wenigstens erreichen können, dass diese Rechte in dem Pass, also in diesem Aufenthaltsstatus, mitenthalten waren.
„Ohne die Vietnamesen hätten wir niemals diesen Kampf ums Bleiberecht führen können“
Die nächste Aktion war dann Ende '91, Anfang '92, Widersprüche gegen diese schlechte Aufenthaltserteilung einzulegen, mit der Begründung, dass die Rechte wesentlich höher waren. Irgendwann, ich glaube, so ungefähr 1992, kam die damals ins Amt eingeführte Ausländerbeauftragte, Frau Schmalz-Jacobsen. Das Büro der Ausländerbeauftragten, Zweigstelle Berlin, hat organisiert, dass die zu uns kommen, in die Beratungsstelle. Inzwischen hatten wir dafür eine Wohnung, mit zwei Zimmern. Wir haben organisiert, dass die Vietnamesen da sind und über ihre Situation berichten und wir haben über die Zwangsabtreibungen zu DDR-Zeiten erzählt und in welcher wirtschaftlichen Situation sie jetzt in dieser Wende sind, dass viele kein Geld haben, viele Kinder und so weiter. Und dann haben wir Frau Schmalz-Jacobsen ein Baby in den Arm gelegt und haben gesagt: Das können sie doch nicht zulassen. Und da ist sie rausgegangen und hat gesagt: Das geht überhaupt gar nicht, und sie will das Bleiberecht für die Vertragsarbeiter. Ab da hieß es nicht mehr „Gleichstellung“, ab da hieß es „Bleiberecht für Vertragsarbeiter“.
Kurz vorher hatte ich die Vietnamesen aufgerufen, eine Selbstvertretung zu gründen.Und als die Frau Schmalz-Jacobsen kam, war die Selbstvertretung gerade neu gegründet. Das waren alles Gruppenleiter, Dolmetscher, die das auch sprachlich alles verstanden haben. Ohne die Vietnamesen hätten wir niemals diesen Kampf ums Bleiberecht führen können, weil nur die Vietnamesen konnten sagen, dass sie bleiben wollten. „Nicht ich als Deutsche, ich kann bleiben“, meinte ich, „Ihr müsst sagen, was ihr wollt.“ Und das haben sie dann auch gemacht.
Und dann haben wir Tausende von Widersprüchen bearbeitet. Die Ausländerbehörde hat gesagt: „Sie können das hier nicht machen. Sowas geht überhaupt nicht.“ Und ich habe denen gesagt: „Können Sie mir einen Stempel geben? Ich kann das auch selbst einstempeln.“ Die waren so sauer! Wir sind dann alle zusammen mitgegangen zur Ausländerbehörde. Wir haben uns am Alex getroffen und sind mit hunderten Leuten zur Ausländerbehörde gegangen. Und dann saßen wir mit den Akten und den Formularen – erster Widerspruch, zweiter Widerspruch gegen erste Ablehnung usw. – im Warteraum. Und wenn die rauskamen mit der Ablehnung, haben wir sofort das Formular ausgefüllt: Name und so. „Kannst du gleich wieder reingehen!“ (lacht) Die Ausländerbehörde war völlig überfordert.
Das hat sich dann auch ein bisschen rumgesprochen zum Berliner Senat. Und dann haben die in einer Sitzung überlegt, was sie jetzt machen wollen, und haben am Ende gesagt: „Wir sind bereit, eine Aufenthaltsgestattung zu erteilen, befristet für ein halbes Jahr oder so“. Aber da gab es auch einen CDU-Abgeordneten, der Herr Zippel, dem einfiel, die Zigarettenverkäufer auszuschließen. Alle, die Zigaretten verkauft haben, sollten diesen Aufenthalt nicht bekommen. Und so wurde rechtswidrig eingeführt, dass für Vertragsarbeiter eine Null-Strafen-Grenze gilt. Egal, für was und wie hoch man bestraft wurde, für Vertragsarbeiter galten null Tagessätze. Für alle anderen Migranten in Deutschland galten 90 Tage, für Vietnamesen galt Null. Auf dieser Grundlage wurden ganz viele Abschiebungen begründet. Und auch die Jagd nach vietnamesischen Zigarettenhändlern wurde so begründet. Ganz scharf wurde da kontrolliert.
Dabei wurde sehr viel – wie soll ich sagen? – Missbrauch betrieben von Seiten der Polizei. Die haben Razzien in Wohnheimen gemacht und einfach die Zigaretten allen zugeordnet. Da haben ja verschiedene Gruppen in einzelnen Zimmern gewohnt. Das waren ja Einzelpersonen, die gehörten nicht zu einer Familie. Und wenn die Polizei Zigaretten gefunden hat, dann haben sie die Zigaretten einfach allen zugeordnet. Das war dann eine Straftat für alle. Wenn dann also 20 Leute in der Wohnung waren, dann waren 20 Leute vorbestraft. Auch haben sie die Bewohner oft aus ihren Wohnungen rausgeschmissen und die Wohnungen kontrolliert. Und da viele auf dem Markt auch mit Textilien gehandelt haben, haben die Abends ihr Geld unter dem Teppich oder irgendwo in der Wohnung versteckt. Das konntest du ja nicht zur Bank bringen. Da wurde viel geklaut. Auch beschlagnahmte Zigaretten wurden wieder verkauft von Angehörigen von Polizisten oder von den Polizeibeamten selber.
„Mein Heimverbot ist dann auf alle Wohnheime ausgedehnt worden.“ – Behinderung der Rechtshilfe
Da ich hinter dem Wohnheim gewohnt habe, hatten eigentliche alle Vietnamesen meine Telefonnummer in ihrem Zimmer am Lichtschalter stehen. Und wenn eine Razzia war, haben sie mich angerufen und dann war ich da und habe beobachtet, was da passiert. Dann habe ich Alarm geschlagen, in Westberliner Gruppen, Antirassimusgruppen, SOS Rassismus und so, und habe denen gesagt: „Ihr müsst unbedingt kommen. Ich bin hier alleine. Ich kann das beobachten, ich kann euch sagen, was hier passiert, aber das reicht nicht.“ SOS Rassismus hat zum Beispiel zu diesem Hitlergeburtstag jedes Jahr Straßenwache gefahren.
Und während so einer Razzia wurde mir dann Heimverbot überreicht. Ich durfte nicht mehr in das Wohnheim rein. Zu dem Zeitpunkt haben sie schon unsere Beratungsstelle aus Marzahn rausgeschmissen, weil wir zu unbequem geworden sind. Und wir hatten dann Räume in der Rhinstraße und die Kirche hat uns Geld gegeben und hat gesagt: „Macht hier weiter, das ist gut, was ihr macht.“ Aber mein Heimverbot ist dann mit einem Mal komischerweise auf alle Wohnheime ausgedehnt worden. Das heißt, ich hatte mit einem Mal Heimverbot für alle Wohnheime, die für uns relevant waren.
„Die Vietnamesen haben sich erstmalig wirklich zur Wehr gesetzt“ – Sommer 1993
Es gab dann auch immer mehr Informationen zum Thema Polizeiübergriffe. Auslöser war eine Razzia der Polizei in der Habermann-Straße, wo über einen ganzen Tag hinweg das gesamte Wohnheim geräumt wurde. Frauen saßen mit den Babys draußen im Sommer in der Sonne und konnten die Kinder nicht versorgen. Teilweise wurden Leute verhaftet und an die Heizkörper gekettet. Es gab immer mehr Unmut unter den Leuten, weil auch im Vorjahr schon sehr viele Übergriffe passiert waren, nicht bloß von Polizisten, auch von Rechten und so weiter. Deutsche Jugendliche haben gesehen, wie Vietnamesen, die man verhaftet hatte, im Polizeiauto mit Handschellen an irgendeinem Gestänge festgemacht und geschlagen wurden. Danach ist es dann eskaliert. Da sind die Feuerlöscher aus dem Fenster geflogen. Die Vietnamesen haben sich erstmalig wirklich zur Wehr gesetzt. Es gab da eine richtige Straßenschlacht. Auch die Linken haben sich dann mit der Polizei geschlagen und die Rechten waren auch mit anwesend.
Das war im Sommer 1993. Die sind dann zwar alle wieder aus dem Knast gekommen. Aber die Vietnamesen waren aufgebracht und wollten die Autobahn besetzen. Und da habe ich gesagt: „Das geht nicht. Wir können nicht die Autobahn besetzen, dann setzt ihr euch ins Unrecht und gefährdet Euch selber. Lasst uns eine richtige Demo machen, angemeldet und so weiter, dann könnt ihr alle mitlaufen. Und dann haben wir eine Demo gemacht und sind zum Kaufhof in der Marzahner Promenade marschiert. Und dann habe ich gemerkt: Die haben alles so abgeschirmt, dass niemand merkt, das wir demonstrieren! Und dann habe ich mittendrin, die hatten sich total sicher gefühlt, die Polizei, gesagt: „So, und jetzt biegen wir hier ab und gehen die ganze Marzahner Promenande lang!“ Oh, die waren ganz aufgeregt, dass wir da lang gezogen sind! Da haben es dann auch ganz viele Leute mitbekommen. Aber als wir zum Eingang vom Kaufhof kamen, wurde der Eingang geschlossen. Die Besucher durften nur noch von der anderen Seite reingehen, damit bloß keiner mitkriegt, dass wir da demonstrieren. Nach dieser Demo haben wir eine Kündigung für unsere Räume bekommen, was über den Stadtbezirk abgesegnet war.
Rassistische Übergriffe vor und nach der Wende
Es gab Rassismus in der DDR. Es hatte eine andere Qualität und wurde auch anders gedeckelt als später. Aber selbst das Vertragsarbeits-Abkommen und die Umsetzung: aus meiner heutigen Sicht war das alles Rassismus! Und was da alles passiert ist. Zum Beispiel mussten alle Wohnheime Wachschutz haben. Wir hatten ein Ehepaar bei uns im Wachschutz, der Mann kam von der Polizei. Und wenn man so und so viele Jahre bei bewaffneten Organen gewesen ist, gehörte man noch zu Reservisten und konnte seine Uniform mitnehmen. Am Abend, wenn der Dienst hatte, dann hat der seine Uniform angezogen und hat die Vietnamesen ständig an die Wand gestellt und abgeklopft. Oder er hat sie draußen stehen lassen und solche Sachen. Da gab's weder ein Disziplinarverfahren noch irgendwas. Das war so eine Sache, bei der ich überhaupt nicht verstanden habe, warum da nicht stärker durchgegriffen wurde.
Ich erinnere mich noch an mehr Sachen, die mich sehr betroffen gemacht haben. Wir waren mehrere Betreuer. Und die Betreuer hatten so eine Art Oberbetreuer. Ein Typ, der war zuständig für Brandschutz, ein Sicherheitsinspektor. Auf einer Versammlung sagte dann mein Gruppenleiter, also der für unsere Gruppe den Hut aufhatte: „Ich hasse die Vietnamesen. Die sollen sie alle wieder auf ihr Reisfeld schicken, wo sie hergekommen sind. Am liebsten würde ich denen ein Messer in den Rücken stecken und langsam zudrücken.“ Und niemand hat was gesagt. Ich war so erschrocken – über die Aussage und darüber, dass die so stehengeblieben ist. Der hat sich danach versetzen lassen, zu den Mosambikanern. Ob er da besser zurecht gekommen ist, weiß ich nicht.
Solidaritätserfahrungen
Die Unterstützung kam aus Westberlin, das kann ich ganz deutlich sagen. Was im Osten passierte, das macht mich bis heute sehr wütend. Dass die, die eigentlich die Solidarität oder die Menschenfreundlichkeit, die Menschlichkeit in ihr Parteibuch geschrieben haben, das aber nicht wirklich sind. Zum Beispiel diese Übergriffe in dem Wohnheim. Da waren ja die alten Heimleiter noch da, die auch zu DDR-Zeiten schon da waren. Und das waren alles Genossen. Das war es, was mich so wütend gemacht hat: dass die das machen konnten und der Heimleiter da auch. Die sind mit Waffen in die Wohnheime gestürmt und da waren Kinder und … . Das hat mich so wütend gemacht, dass da so ein rechtsfreier Raum war, Anfang der 1990er Jahre. Ich bin damals zu Gysi gegangen und habe ihn gebeten, seine Genossen zurückzupfeifen. Da hat er mir erklärt: „Das wird alles nicht so heiß gegessen wie es gekocht wird.“ Was war ich so sauer über so eine flapsige Aussage!
Aber wie gesagt, die größte Unterstützung, der größte Rückhalt für alles, was wir gemacht haben, kam aus Westberlin. Die haben die Übergriffe von Polizeibeamten öffentlich gemacht haben, wo dann auch Leute verurteilt wurden. In Berlin wurde das alles unter den Teppich gekehrt, aber in Brandenburg wurde eine ganze Wache suspendiert. Einer wurde glaube ich aus dem Beruf rausgeschmissen.
Manche Sachen vergisst man auch. Zum Beispiel gab es eine Situation, da sollte das Wohnheim in Ahrensfelde genauso brennen wie Rostock. Wir haben nach Rostock nächtelang dort gesessen und das Wohnheim bewacht. Es ist auch in das Wohnheim reingeschossen worden, von den Nebenhäusern. Einfach in die Scheiben reingeschossen. Wir hatten die Heimleitung gebeten, Folie aufzukleben auf die Fenster, damit die nicht zerspringen können, wenigstens bis zur ersten Etage. Wir haben überall Riegel eingebaut, dass die Fenster nicht einfach so aufzumachen waren. Und in dieser einen Nacht waren die Rechten schon da. Wir waren drin und haben immer abwechselnd geguckt, wo die sind, was passiert. Denn solange nichts passiert, kann ich auch keine Polizei rufen. Das war wirklich kurz davor, dass es los geht. 21 Uhr ungefähr. Und dann rief mit einem Mal mein Kollege: „Die haben mit einem Mal ‚Scheiße‘ gebrüllt und sind alle abgehauen.“
Hinterher haben wir erfahren, dass der Naziclub in Marzahn-West angezündet wurde. Da sind die alle ihren Club löschen gegangen und damit ist der Brand, der in Ahrensfelde geplant war, ausgefallen. Wenn das gebrannt hätte, wäre es eine Katastrophe gewesen. Das wäre noch schlimmer gewesen als in Rostock, weil das Heim voller Kleinkinder und Babys war. Niemand wusste, wie viele Menschen überhaupt in dem Heim waren.
Wir haben jedenfalls nie erfahren, wie genau es kam, dass der Naziclub brannte, wer das war und so weiter. Wir hätten uns gerne bedankt. Das war sehr brenzlig.
Was bleibt?
Ich denke, wir haben eine Menge verändert. Zum Beispiel gibt es diese offenen Übergriffe nicht mehr. Die Polizei hat richtig Respekt gehabt vor uns. Dieser sehr offene Rassismus, der ist nicht mehr da. Die Vietnamesen sind inzwischen in vielen Netzwerken vertreten. Wir haben viele Netzwerke aufgebaut. Aber die Politik ist auch rassistischer geworden seit Seehofer. Und rassistische Äußerungen sind in der Öffentlichkeit, im Parlament wieder möglich und salonfähig. Insgesamt ist die Gesellschaft aggressiver geworden, sowohl in Deutschland als auch in der ganzen Welt. Das macht mir große Sorgen.