Praktische Solidarität für Bleiberecht und gegen Rassismus

Die Erinnerungen einer Beraterin und Aktivistin für die Rechte vietnamesischer Vertragsarbeiter*innen an die Nachwendezeit. Die ehemalige Wohnheim-Betreuerin vietnamesischer Vertragsarbeiter*innen gründete nach der Wende eine Beratungs- und Hilfsorganisation für diese mit engagierte sich politisch für sie.

Interview ID: VA02, Ort und Datum des Interviews: Berlin, 24.11.2021

 

„Was kommt jetzt?“ – Das einschneidenste Erlebnis nach der Wende

Das einschneidenste Erlebnis war für mich der erste Hitlergeburtstag, den wir hier erlebt haben. Das war im April '90, ich glaube der 20. April. Und da gab's eine Ankündigung, dass rechte Gruppen bis nach Ahrensfelde in die Wohnheime marschieren wollten. Und ich war damals Wohnheimbetreuerin, und da hatten wir natürlich Angst, dass da was passiert. Wir haben dann das Wohnheim schützen lassen. Da kam tatsächlich Polizei, die sich neben das Wohnheim gestellt hat. Und wir haben die Vietnamesen angewiesen, nicht draußen rumzurennen. Aber das war für mich das einschneidenste Erlebnis nach der Wende – Was kommt da auf uns zu? Die Maueröffnung und so, das war für mich nicht so einschneidend, sondern dieses eine Erlebnis war für mich eigentlich eine Schrecksekunde: Was kommt jetzt?

„Wenn wir nicht zugucken wollen, wie die Vietnamesen einfach mal nach Hause gehen müssen“ – Der Beginn der Rechtsberatung für ehemalige Vertragsarbeiter*innen

"Waren alle total perplex, wie ich einen Beratungsraum aus dem Hut zaubern konnte."

Nicht lange danach haben wir eine Einladung gekriegt zu einer "Vietnamkonferenz". Da hat die evangelische Kirche, deren migrationspolitische Abteilung, eine Tagung vorbereitet, mit allen, von denen ihr bekannt war, die sich engagiert haben. Vor der Maueröffnung oder nach der Maueröffnung. Und die kamen dann auch – aus der ganzen ehemaligen DDR Leute, insbesondere aus dem kirchlichen Bereich. Und dort haben wir einen Vortrag gehört von einem Rechtsanwalt, der uns erzählt hat, was in Vorbereitung ist in Bezug auf den Umgang mit den vietnamesischen Vertragsarbeitern und mit den Vertragsarbeitern allgemein. Und wie die juristischen Folgen sind. Und dabei ist uns einfach klar geworden, dass wir irgendwas tun müssen, wenn wir nicht zugucken wollen, wie die Leute einfach mal nach Hause gehen.

„Wovon sollten sie leben?“ – Kündigungen, Lohnbetrug und Ausreise

Und dann ging's um die Kündigungen und die Nullstunden-Kurzarbeit. Wovon sollten die Vertragsarbeiter leben? Die Behörden waren der Meinung: Die kriegen nichts. Die sollen zum Sozialamt gehen. In der Zwischenzeit gab es aber dieses veränderte Regierungsabkommen. Mit dem Text vom Regierungsabkommen – was die Behörden nicht hatten – sind wir in die Behörden gegangen und haben gesagt: Hier, Sie sind verpflichtet, zu zahlen. So haben wir dafür gesorgt, dass die Leute von irgendwas leben konnten. Aber nicht alle haben den Weg zu uns geschafft. Wir waren einfach mal in Berlin, nicht überall. Und dadurch ist dann das mit dem Zigarettenhandel so hochgekommen. Weil die Leute einfach mal von irgendwas leben mussten. Für etliche DDR-Bürger waren das auch „Solizigaretten“. Die haben ganz gezielt und bewusst die Zigaretten gekauft. Nicht alle wussten, dass das illegal ist. Teilweise wurden sogar Zigaretten auf dem Wochenmarkt verkauft. Jedenfalls, es gab viele Deutsche, die ganz gezielt diese Zigaretten gekauft haben und die nannte man im Volksmund „Solizigaretten“. Es gab auf den Märkten auch etliche DDR-Bürger, die, wenn die Polizei kam, die Zigaretten versteckt haben für die Vietnamesen. Beziehungsweise auch in ihren eigenen Kellerräumen, dass die Polizei die nicht entdecken konnte.

„Fahrt mal lieber nach Hause, hier wird's ganz schlimm.“

Das Gros der Leute ist ausgereist, weil sie nicht wussten, was ihre Rechte waren und was noch kommen würde. Denn es gab auch Betriebe, die mit der Nazikeule argumentiert haben. Die gesagt haben: „Jetzt kommt der Kapitalismus und jetzt kommen die Nazis und jetzt kommen die Rassisten. Fahrt mal lieber nach Hause, hier wird's ganz schlimm.“ Aufgrund dessen sind dann auch viele nach Hause gefahren. Mit dem Zigarettenhandel und mit der unsicheren Situation kam dann auch viel Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Die Vietnamesen konnten nicht mehr Abends auf die Straße gehen. Die Betriebe haben sie dann teilweise im Betrieb schlafen lassen, damit sie nach der Spätschicht nicht auf die Straße müssen. Dann kauften viele Vietnamesen auch alte Autos, damit sie sich gegenseitig transportieren können.

„Da sind wir mit zur Ausländerbehörde“ – Kämpfe um den Aufenthalt

"Das heißt, unsere Stadt war nach wie vor geteilt, aber unser Land auch."

Mein Kollege hat damals schon immer gefragt: Was kann man machen, dass die Leute bleiben können? Und dann haben wir hier einen sehr engen Kontakt zu damals dem Bündnis '90 gepflegt und die haben uns geholfen, Gutachten erstellen zu lassen über die Rechtssituation von Vertragsarbeitern. Uns ging es damals um die Gleichstellung. Gastarbeiter und Vertragsarbeiter. Die Rechte der Vertragsarbeiter waren wesentlich höher als die der Gastarbeiter. Die Vertragsarbeiter hatten das Recht auf Sozialleistung, auf Wohnraum, auf Arbeitserlaubnis, auf Gewerbe. Aber alles nur im Osten. Für diese Rechtssache war die Grenze noch bis '97 zu. Anfang '92 haben wir alles vorbereitet für den Kampf um die rechtliche Gleichstellung der Vertrags- und Gastarbeiter. Wir haben Widersprüche eingelegt gegen den erteilten Aufenthaltsstatus, der damals der schlechteste Status war, den man haben konnte und befristet war. Man wollte sicherstellen, dass alle irgendwann, wenn der Aufenthalt, also der ursprüngliche Aufenthalt, abgelaufen ist, nach Hause gehen.

„Ohne die Vietnamesen hätten wir niemals diesen Kampf ums Bleiberecht führen können“

Die nächste Aktion war dann Ende '91, Anfang '92, Widersprüche gegen diese schlechte Aufenthaltserteilung einzulegen, mit der Begründung, dass die Rechte wesentlich höher waren. Irgendwann, ich glaube, so ungefähr 1992, kam die damals ins Amt eingeführte Ausländerbeauftragte, Frau Schmalz-Jacobsen. Das Büro der Ausländerbeauftragten, Zweigstelle Berlin, hat organisiert, dass die zu uns kommen, in die Beratungsstelle. Inzwischen hatten wir dafür eine Wohnung, mit zwei Zimmern. Wir haben organisiert, dass die Vietnamesen da sind und über ihre Situation berichten und wir haben über die Zwangsabtreibungen zu DDR-Zeiten erzählt und in welcher wirtschaftlichen Situation sie jetzt in dieser Wende sind, dass viele kein Geld haben, viele Kinder und so weiter. Und dann haben wir Frau Schmalz-Jacobsen ein Baby in den Arm gelegt und haben gesagt: Das können sie doch nicht zulassen. Und da ist sie rausgegangen und hat gesagt: Das geht überhaupt gar nicht, und sie will das Bleiberecht für die Vertragsarbeiter. Ab da hieß es nicht mehr „Gleichstellung“, ab da hieß es „Bleiberecht für Vertragsarbeiter“.

„Mein Heimverbot ist dann auf alle Wohnheime ausgedehnt worden.“ – Behinderung der Rechtshilfe

"Zu dem Zeitpunkt haben sie schon unsere Beratungsstelle aus Marzahn rausgeschmissen, weil wir zu unbequem geworden sind."

Da ich hinter dem Wohnheim gewohnt habe, hatten eigentliche alle Vietnamesen meine Telefonnummer in ihrem Zimmer am Lichtschalter stehen. Und wenn eine Razzia war, haben sie mich angerufen und dann war ich da und habe beobachtet, was da passiert. Dann habe ich Alarm geschlagen, in Westberliner Gruppen, Antirassimusgruppen, SOS Rassismus und so, und habe denen gesagt: „Ihr müsst unbedingt kommen. Ich bin hier alleine. Ich kann das beobachten, ich kann euch sagen, was hier passiert, aber das reicht nicht.“ SOS Rassismus hat zum Beispiel zu diesem Hitlergeburtstag jedes Jahr Straßenwache gefahren.

„Die Vietnamesen haben sich erstmalig wirklich zur Wehr gesetzt“ – Sommer 1993

Es gab dann auch immer mehr Informationen zum Thema Polizeiübergriffe. Auslöser war eine Razzia der Polizei in der Habermann-Straße, wo über einen ganzen Tag hinweg das gesamte Wohnheim geräumt wurde. Frauen saßen mit den Babys draußen im Sommer in der Sonne und konnten die Kinder nicht versorgen. Teilweise wurden Leute verhaftet und an die Heizkörper gekettet. Es gab immer mehr Unmut unter den Leuten, weil auch im Vorjahr schon sehr viele Übergriffe passiert waren, nicht bloß von Polizisten, auch von Rechten und so weiter. Deutsche Jugendliche haben gesehen, wie Vietnamesen, die man verhaftet hatte, im Polizeiauto mit Handschellen an irgendeinem Gestänge festgemacht und geschlagen wurden. Danach ist es dann eskaliert. Da sind die Feuerlöscher aus dem Fenster geflogen. Die Vietnamesen haben sich erstmalig wirklich zur Wehr gesetzt. Es gab da eine richtige Straßenschlacht. Auch die Linken haben sich dann mit der Polizei geschlagen und die Rechten waren auch mit anwesend.

Rassistische Übergriffe vor und nach der Wende

"Und niemand hat was gesagt. Ich war so erschrocken."

Es gab Rassismus in der DDR. Es hatte eine andere Qualität und wurde auch anders gedeckelt als später. Aber selbst das Vertragsarbeits-Abkommen und die Umsetzung: aus meiner heutigen Sicht war das alles Rassismus! Und was da alles passiert ist. Zum Beispiel mussten alle Wohnheime Wachschutz haben. Wir hatten ein Ehepaar bei uns im Wachschutz, der Mann kam von der Polizei. Und wenn man so und so viele Jahre bei bewaffneten Organen gewesen ist, gehörte man noch zu Reservisten und konnte seine Uniform mitnehmen. Am Abend, wenn der Dienst hatte, dann hat der seine Uniform angezogen und hat die Vietnamesen ständig an die Wand gestellt und abgeklopft. Oder er hat sie draußen stehen lassen und solche Sachen. Da gab's weder ein Disziplinarverfahren noch irgendwas. Das war so eine Sache, bei der ich überhaupt nicht verstanden habe, warum da nicht stärker durchgegriffen wurde.

Solidaritätserfahrungen

Die Unterstützung kam aus Westberlin, das kann ich ganz deutlich sagen. Was im Osten passierte, das macht mich bis heute sehr wütend. Dass die, die eigentlich die Solidarität oder die Menschenfreundlichkeit, die Menschlichkeit in ihr Parteibuch geschrieben haben, das aber nicht wirklich sind. Zum Beispiel diese Übergriffe in dem Wohnheim. Da waren ja die alten Heimleiter noch da, die auch zu DDR-Zeiten schon da waren. Und das waren alles Genossen. Das war es, was mich so wütend gemacht hat: dass die das machen konnten und der Heimleiter da auch. Die sind mit Waffen in die Wohnheime gestürmt und da waren Kinder und … . Das hat mich so wütend gemacht, dass da so ein rechtsfreier Raum war, Anfang der 1990er Jahre. Ich bin damals zu Gysi gegangen und habe ihn gebeten, seine Genossen zurückzupfeifen. Da hat er mir erklärt: „Das wird alles nicht so heiß gegessen wie es gekocht wird.“ Was war ich so sauer über so eine flapsige Aussage!

Was bleibt?

Ich denke, wir haben eine Menge verändert. Zum Beispiel gibt es diese offenen Übergriffe nicht mehr. Die Polizei hat richtig Respekt gehabt vor uns. Dieser sehr offene Rassismus, der ist nicht mehr da. Die Vietnamesen sind inzwischen in vielen Netzwerken vertreten. Wir haben viele Netzwerke aufgebaut. Aber die Politik ist auch rassistischer geworden seit Seehofer. Und rassistische Äußerungen sind in der Öffentlichkeit, im Parlament wieder möglich und salonfähig. Insgesamt ist die Gesellschaft aggressiver geworden, sowohl in Deutschland als auch in der ganzen Welt. Das macht mir große Sorgen.