Im Winter 2015/2016 kam ich täglich an der Anlaufstelle vorbei, in der SaveMe am Anfang eine Kleiderkammer eingerichtet hatte, und dort sind mir die Riesenmenschenschlangen aufgefallen, Menschen, aus arabischen Ländern, wie Syrien, Iran, Irak, Afghanistan, die schlecht gekleidet waren und froren. Und ich habe gesehen, wie groß die Not ist, dass die dortigen Räume viel zu klein waren. Als Kirchgemeinde kann man mehr machen als das Übliche, sagte ich mir. Diakonie heißt ja den Glauben mit dem Tun zu verbinden. Und dann habe ich mich erkundigt, wer bei SaveMe dafür zuständig ist und das Gespräch gesucht. Wir haben die Pauluskirche und dieses Petrus Gemeindezentrum, dass mit vielen Nebenräumen bestückt ist und mit allerlei praktischen Dingen wie Faltwänden. Diese Räume sind weitgehend leer wie in vielen Gemeinden, und das sprang mich förmlich an: Wir haben hier viele Räume, die für diesen Zweck passend sind, und SaveMe braucht schnell zentral gelegene, gut erreichbare Räume. Unsere Gemeinde findet jeder, auch wenn er sich in Konstanz nicht gut auskennt. Und wenn ich schon solche guten Gelegenheiten habe, dass ich nicht nur an mich denke, sondern auch etwas für die Gesellschaft tun kann, dort, wo es gerade fehlt, wo gerade gebraucht wird, dann sollte ich auch handeln. So hat sich die Idee herauskristallisiert, dass ich unsere Räume zur Verfügung stellen könnte, und zwar den Gemeindesaal. Darauf ist die Dame von SaveMe sofort geflogen, denn der Verein wollte eine Art Rundlauf organisieren, vorne rein und hinten wieder raus. Das war nur in diesem Raum möglich. Später sind dort 150 Flüchtlinge am Tag in kleinen Gruppen durchgeschleust worden. Und als ich gemerkt habe, dass SaveMe sehr professionell an diese Fragen rangegangen ist, mit Menschen, die viel berufliches Know-how mitbrachten, wurde mir klar, dass ich nicht nur einen Raum zur Verfügung stellen kann, den ich übrighabe, sondern einen, der auch wirklich passt – auch wenn es einen Einschnitt in unser Gemeindeleben bedeutet. Ich habe den Architekten, der das Gebäude konzipiert hatte, gefragt, was er mir empfehlen würde. Und dann den Ältestenkreis vor ein ziemlich ausgefeiltes Modell gesetzt und gefragt: Geht ihr mit?
Die Petrus- und Paulusgemeinde hilft, ungeachtet des Glaubens, einfach, weil es nötig ist
Unsere Gemeinde hatte genau das, was SaveMe und die Geflüchteten benötigten: Zentral gelegene, große Räumlichkeiten
Diakonie heißt, den Glauben mit dem Tun zu verbinden
Die Ältesten hatten vor Jahren bei einem internen Gemeindeprozess unterschrieben, dass sie diakonische Gemeinde werden wollen. Die diakonische Ausrichtung steht dafür, dass man als Kerngemeinde nicht nur nach innen schaut, was wir für unser geistliches Wohl brauchen, zum Beispiel einen Gesprächskreis für jüngere Frauen oder ein Familienfrühstück für Taufeltern. Ein diakonisches Profil bedeutet, dass wir zu denen schauen, die in unserer Gemeinde sind, aber nicht zur Kerngemeinde gehören, aus ganz verschiedenen Gründen. Zum Beispiel in unserem Löwenzahn-Kindergarten, mit nur 20 Prozent christlichen Familien, ein Elterncafé für alle etablieren, oder Gutscheine für den Konstanzer Tafelladen für diejenigen erstellen, die aus allem irgendwie rausfallen und Unterstützung nötig haben, ohne dass sie kirchlich gebunden sein müssen. Diakonie bedeutet Hilfsangebote, ohne Ansehen des Glaubens oder sonstige Verpflichtungen, einfach nur weil es nötig ist. Das hat in der frühen christlichen Urgemeinde angefangen, als Versorgung von Witwen, Waisen und Bettlern, also von denjenigen, die am Rand der Gesellschaft gelebt haben. Und heute bedeutet es, für die Geflüchteten da zu sein, von denen die meisten Muslime sind. Und dass man nicht sagt, wir helfen bloß Christen, sondern uns für all diejenigen öffnen, denen wir etwas anbieten können, was uns Spaß macht, was uns liegt und was sie brauchen können.
Sofortige Begeisterung gab es am Anfang nicht
Daran habe ich angeknüpft und gesagt, dass es jetzt in dieser Notsituation Gelegenheit gibt, das diakonische Profil zu vertiefen und den Raum zur Verfügung zu stellen. Ich hatte vorher auch schon mit dem Hausmeister geredet, um Raumalternativen für Gemeindeveranstaltungen zu besprechen. Ich hatte das also gut vorbereitet, so dass alle Fragen beantwortet werden konnten. Ich bin sehr fürs Vorbereiten, Organisieren, Abklären, nicht einfach losstürmen. Aber irgendwann kommt der Punkt, wo man sagen muss, so jetzt gehen wir los. Jetzt versuchen wir etwas, ohne genau zu wissen, wo wir landen, wie lange es dauert und wo wir rauskommen. Aber wir sind gut vorbereitet, sodass wir mit Eventualitäten zurechtkommen. Bei so etablierten Gemeinden ist diese Bereitschaft erstmal nicht unbedingt da und es braucht viel Motivationshilfe. Wenn wir uns etwas vornehmen, weil es toll klingt und weil wir mit dem Kopf sagen ‚Eigentlich ist es ja gut‘, dann muss man auch sagen, ‚Jetzt müssen wir den zweiten Schritt machen‘, sonst passiert nie etwas. Sofortige Begeisterung gab es dafür aber nicht, sondern viele Fragen: Was kostet es uns? Inwieweit schränkt es uns ein? Wie machen wir dann mit unseren Sachen? und so weiter. Ich hatte immer dafür geworben, es für ein halbes Jahr einfach zu probieren. Und wenn man in einem halben Jahr feststellt, das läuft überhaupt nicht oder hat große Nachteile für die Gemeinde, dann bin ich auch bereit, dass es wieder rückwärts geht. Mit dieser Vorstellung, dass wir uns für ein halbes Jahr festlegen, und danach auswerten, ob wir weiter ja sagen oder uns daraus wieder zurückziehen, ist es dann allen leichter gefallen, Ja zu sagen. Und dann hat der Ältestenkreis zugestimmt.
Die Stadt Konstanz hat mit Hilfe eines technischen Betriebes einen doppelten Boden im Gemeindesaal eingebaut. Das war meine Bedingung, damit das Parkett nicht abgenutzt wird. Wir haben den Raum kostenlos zur Verfügung gestellt. Das heißt, wir mussten mit diesen räumlichen Einschränkungen zurechtkommen und die erhöhten Kosten genehmigen lassen – wir hatten schließlich doppelte Heizungs- und Stromkosten. Es gab auch Geflüchtete, die manchmal ihre Wutausbrüche mitgebracht haben oder ihr Unverständnis unserer Kultur gegenüber. Wir mussten also auch Reparaturen finanzieren. Die Sanitärpflege musste verdreifacht werden, denn wenn zweimal in der Woche mindestens hundert Menschen hier sind, dann muss der Sanitärbereich danach gereinigt werden. Das sind Kosten, die wir übernommen haben, das ist eben unser Solidarbeitrag, habe ich immer gesagt. Ich habe in den Haushalt geschaut und gesehen, dass wir es uns leisten können. Die Petrus-Paulus-Gemeinde ist die größte evangelische Gemeinde am Bodensee. Es hat uns finanziell nicht in eine Schieflage gebracht.
Die ersten vier Wochen waren grauenhaft, aber das waren Kinderkrankheiten
Und dann hat sich im ersten halben Jahr herausgestellt, dass die befürchteten Konsequenzen gar nicht so schlimm waren, aber die ersten vier Wochen waren grauenhaft. Es gab viel Stress, auch für SaveMe. Aber das sind für mich Kinderkrankheiten gewesen. Wenn man etwas anfängt, was es noch nie gab, dann muss man mit Konflikten rechnen. SaveMe hat am Anfang quasi täglich ein Auswertungsgespräch gemacht. Zum Beispiel haben die wartenden Männer gedrängelt. Alles stand voll bis auf die Straße vor. Sie haben die Mütter nicht mehr in den Gemeindekindergarten gehen lassen. Dann gab es Ärger mit den Kindergarteneltern, die um ihre Kinder Angst hatten und sich bedroht fühlten, allein schon durch die Anwesenheit der Geflüchteten. Da mussten wir dann auch Gespräche zur Beruhigung führen. Es gab auch anonyme Anrufe und Schmähbriefe von Leuten, die ich gar nicht kenne, dass wir quasi das Kirchgebäude entweihen, wenn wir Muslime da reinlassen. Aber das verschwimmt wieder im Nachhinein, weil jemand, der anonym schreibt – mit dem kann ich nicht ins Gespräch kommen.
Wir haben dann von den Stadtwerken Absperrgitter gekriegt, damit die Wartenden nicht drängeln und schubsen und der Stärkere gewinnt. Es gab Geflüchtete, die diese Mentalität mitgebracht haben: ‚Ich muss mich vordrängeln und kämpfen‘. Sie hatten ja auch etwas auf sich genommen, bis sie überhaupt erst mal hier gelandet sind. Durch gemeinsames Reflektieren, stetige Anpassung und die Einführung einer gewissen Ordnung ist dann erreicht worden, dass die Wartenden in den Hof umgelenkt wurden und der Kindergartenzugang frei und klar war: hier geht es rein und dort geht es raus. Und es hat viel Neid gegeben, jedes gespendete Kleidungsstück ist ja nur einmal da. Durch Begleitung in den Flüchtlingsunterkünften haben wir dann auch gemerkt, dass manche hier fünf Jacken mitgenommen haben und vier davon verkauft haben. Für uns war das aber nicht Sinn der Sache. SaveMe hat sich dann angewöhnt, eine Liste zu machen, die abgehakt wurde. Jeder Geflüchtete hatte das Recht, nur so und soviel Kleidungsstücke zu bekommen. Ich fand es wirklich toll, dass es bei SaveMe regelmäßig Reflexions- und Auswertungsphasen gab, ein Fazit gezogen und immer wieder etwas geändert wurde. So ist die Situation immer besser zu handhaben und nach einem halben Jahr in einem ruhigen Fahrwasser gewesen. Die ersten Kontakte sind entstanden, und dann wurde entschieden: wir machen weiter.
Die Gemeinde hatte Alternativmöglichkeiten, die Geflüchteten hätten keine gehabt
Die Gemeinde selber war am Anfang nicht sehr erbaut, weil es laut und umtriebig war. Auch hat es einige ältere Gemeindeglieder verunsichert, dass Menschen anderer Hautfarbe und offensichtlich anderer Herkunft hier ein- und ausgehen und herumlaufen. In einer Gemeinde, die gewöhnt ist, dass alles gesittet und still seinen gewohnten Gang geht, hatte ich dann einiges zu tun: Ich habe Diakonie und was das bedeutet in Gottesdiensten, im Frauenkreis, im Seniorennachmittag zum Thema gemacht. Und wenn man plötzlich die Gelegenheit bekommt, im richtigen Augenblick da zu sein, etwas bereitstellen zu können, dann ist es einfach Christenpflicht, das auch zu tun. Und wir waren immer noch gut bestückt. Wir hatten zwar mehr Arbeit mit hin und her stuhlen, weil uns ein großer zentraler Raum fehlte. Aber wir hatten Alternativmöglichkeiten. Die Geflüchteten hätten keine gehabt. Wir sind dann zum Beispiel im Winter mit dem Frauenkreis in einen anderen Raum ausgewichen, der war viel wärmer, und auf einmal haben sie sich gefreut, dass sie nicht so frieren. Die ersten Kontakte haben ganz zart begonnen. Wir haben die Christen unter den Geflüchteten eingeladen und mit ihnen mit Händen und Füßen geredet. Damals war ja noch nicht Corona. Wir hatten nach jedem Gottesdienst Kirchencafé und haben dann eingeladen. Einzelne Geflüchtete haben dann mit von uns finanzierten Zutaten landestypisches Essen gekocht.
Vor Corona hatten wir eine Reihe gehabt, in der wir einmal im Quartal Filme mit besonderem Anspruch gezeigt haben, und das mit einem Essen, das mit dem Film zu tun hat, verbunden haben. Und als wir den Film Drachenreiter gezeigt haben, haben wir Geflüchtete aus Afghanistan mit eingeladen und sie haben uns, unterstützt von Dolmetschern und Sprachmittlern, aus ihrem Land erzählt. Einige dieser Geflüchteten, die sich so stark eingebracht, soviel Integrationswillen gezeigt hatten, bekamen trotzdem keinen Aufenthaltstitel und wurden des Landes verwiesen. Das ist für mich bis jetzt nicht nachvollziehbar, zumal auch diese Menschen aus Kriegsgründen geflüchtet sind. Jedenfalls wurden so einige Berührungspunkte geschaffen, ist ein bisschen Kontakt entstanden und einzelne Gemeindeglieder haben sich mit Geflüchteten angefreundet. Nach meinem Geschmack hätten es ruhig mehr Berührungspunkte sein können, aber ich kann ja nur Angebote machen und hoffen, dass jemand darauf eingeht. Die Gemeinde ist eine Kerngemeinde aus älteren Mitgliedern, die regelmäßig kommen, also 65 aufwärts, und da ist es schwer, Offenheit herzustellen, auch wenn ich regelmäßig im Gemeindebrief darüber berichtet habe. Aber in Ansätzen ist es gelungen und inzwischen ist ganz normal geworden, was am Anfang nicht normal war.
Es hat viel Gutes bewirkt
SaveMe hat diese Kleiderkammer toll aufgebaut. Das bekam dann so eine Eigendynamik, und es war mir wichtig, dem auch Raum zu geben. Vielen Geflüchteten ist gar nicht bewusst gewesen, dass sie hier in einem christlichen Gemeindezentrum sind. Für viele war es das SaveMe-Zentrum. Letztendlich nutzte SaveMe dreieinhalb Jahre lang sehr intensiv den Gemeindesaal und das hat viel Gutes bewirkt. Danach konnten wir alles zurückbauen, es sah wieder ordentlich aus und wir haben seitdem unseren Gemeinderaum wieder. Auch die Kleiderkammer war irgendwann in dieser Größe nicht mehr nötig und sie ist in unsere Abstellkammer gezogen. Bis heute gibt es den Frauentreff, den SaveMe eingerichtet hat, und das montägliche Begegnungs-Café. Das hat sich als Anlaufstelle für Geflüchtete etabliert, auch wenn es in der Corona-Zeit pausieren musste. Nach wie vor stellen wir für Feste von SaveMe unsere Räume zur Verfügung. Zudem hatte die AWO gefragt, ob wir nicht noch einen Raum hätten, unser Gemeindezentrum wäre jetzt so bekannt unter Geflüchteten. Dann haben wir noch ein AWO-Beratungszimmer aufgenommen, für die Arbeitsmarktberatung für Geflüchtete und die Begleitung geflüchteter Frauen. Ganz allgemein wurde von SaveMe hier ganz viel Frauenunterstützungsarbeit geleistet, um Frauen zu stärken und zu ermutigen und auf der anderen Seite hat SaveMe klar gemacht, dass Männerautorität hier nicht so gefragt ist. Frauen, auch aus strenggläubigen Familien durften zu zweit, zu dritt und ohne Männer in die Kleiderkammer kommen und ihre Besorgungen machen. Wir haben auch extra Umkleidekabinen eingerichtet. Und in der kleinen Tee-Ecke konnten die Frauen sitzen und schwätzen.
Seitdem sind unsere Gemeindefeste lebendiger geworden, einzelne Geflüchtete bringen sich mit einer Speise oder einem kulturellen Beitrag ein. Das sind so schöne Momente, an denen man deutlich gemerkt hat, dass das auf Gegenseitigkeit beruht. Offenheit für andere, für Menschen in Not, ist zunächst einmal ein Akt der Hilfeleistung. Aber wenn da ein Kontakt entsteht, dann beruht es auf Gegenseitigkeit, wo man selber auch was zurückbekommt. Es gibt überhaupt viel mehr Leben hier in der Gemeinde, es findet Deutschunterricht statt, Hausaufgabenbetreuung, Vorbereitung auf die Deutschprüfungen. Ganz frisch bin ich jetzt von der Ukraine-Hilfe angefragt worden, weil es sich eben rumspricht. Sie suchten einen trockenen sauberen Ort für Medikamente und medizinisch-technische Hilfsgeräte. Das haben wir hier auch noch untergekriegt. Und das bedeutet, das hier viel passiert, dass die Gemeindemitglieder, die Geflüchteten, die Menschen, die sich hier zum Gespräch treffen, hier jetzt auch auf Ukrainer treffen. Und das ist schön so. Man muss gut organisieren, das ist manchmal nicht ganz einfach, aber so ist es eben, das Leben. Kirche ist ja Spezialistin für Veränderungen oder vielmehr für Schwellenriten wie Taufe, Hochzeit, Beerdigung, um damit umzugehen, dass etwas Neues kommt, etwas anders wird. Dass das ganze Leben von einem Tag zum anderen, von einer Woche zur anderen, sich ändert. Und die Geflüchteten wiederum, die haben Sicherheit und Stabilität zwangsweise hinter sich lassen müssen, sie haben es sich nicht ausgesucht, und halten sich an dem fest, was sie noch im Kopf haben, damit sie etwas haben, was so ist, wie sie es kennen. Sie sind auch nicht immer so frei, sich auf die neue Kultur einzulassen, in der sie gelandet sind. Das kann ich auch verstehen, weil das, was sie mit sich tragen, gibt ihnen dann noch Sicherheit. Aus ihren Herkunftsländern nehmen sie nicht nur ihre Kultur, sondern auch ihre Vorurteile und ihre Ressentiments mit. Diese kulturelle Durchmischung, vor allem, wenn sie nicht freiwillig gesucht wird, sondern, wenn sie so aufgezwungen worden ist, ist schwer. Eine große Aufgabe, finde ich, ist es dabei, selber Verständnis zu entwickeln für verschiedene Seiten und dieses Verständnis dann zu vermitteln, damit es Brücken gibt.
Es sind dann auch wirklich Kulturen zusammengeprallt
Die meisten SaveMe-Helferinnen sind Frauen, und kulturell bedingt, haben sich manche Männer nicht gefallen lassen, von einer Frau gesagt zu kriegen, wieviel Kleidungsstücke sie mitnehmen können. Einmal habe ich zufällig aus dem Küchenfenster beobachtet, dass es Geschrei gab. Ein kleiner, korpulenter Mann wollte mit zwei Taschen rausgehen und eine der SaveMe Mitarbeiterinnen hat ihm bedeutet, dass er nicht alles mitnehmen kann, sondern, dass es erst gezählt werden muss. Und dann hat er einen Tobsuchtsanfall gekriegt und die Sachen durch die Gegend geschmissen, die haben wir dann im Hof wieder eingesammelt. Dann waren auch gleich unsere Ordner zur Stelle. Einmal bin ich auch selbst rübergegangen und wenn man sich als großer Mensch, der genau weiß, ich habe das Recht dich hier rauszuschmeißen, vor jemandem hinstellt und ruhig bleibt, dann hat es schon Wirkung. Und zweimal mindestens fühlte sich eine Mitarbeiterin so angegangen, so betroffen, dass sie geweint hat und nicht weiterarbeiten konnte. Wir haben uns dann hingesetzt, das aufgearbeitet und überlegt, was man machen kann, z.B. immer zu zweit arbeiten, auch um Sicherheit zu haben. Und mit der Zeit haben wir auch Geflüchtete um Mitarbeit gebeten. Dann haben junge männliche Geflüchtete mitgemacht und konnten dolmetschen. Mancher Konflikt lag vielleicht auch an den Sprachschwierigkeiten. Wenn Englisch nicht geht, mit Händen und Füßen geredet wird, und man dann jemandem etwas wegnimmt und sagt: „Nein, das bleibt hier“, das kann zur Folge haben, dass sich dieser Mensch in seiner Autorität angegriffen fühlt. Geflüchtete in solchen Situationen zu bitten, dabei zu sein, mit anzupacken und zu dolmetschen, das hat dann vieles entzerrt.
Einige von den SaveMe Mitarbeiterinnen, von denen manche nur kurze Zeit da waren, andere sind bis heute dabei, haben sich das auch etwas anders vorgestellt. Es ist wahrscheinlich ein bisschen europäische Mentalität zu denken, wir helfen euch, und ihr seid dankbar dafür. Es prallen aber Kulturen aufeinander, und Menschen anderer Kulturen sind es zum Teil nicht gewöhnt, dass Frauen etwas zu sagen haben und Chefin sind, das wird einfach nicht akzeptiert. Und dass man dann nicht mit Recht haben weiterkommt, sondern auf anderen Wegen und in manchen Situationen akzeptieren muss, hier komme ich als Frau nicht weiter, hier muss ich einen Mann bitten. Und zwar nicht, weil ich blöd bin oder es nicht schaffe, sondern einfach, weil die kulturelle Befangenheit meines Gegenübers es ihm nicht möglich macht, mich jetzt zu verstehen. Das zu verstehen, ist auch einigen der Helferinnen schwergefallen, dass man damit umgehen muss, was da ist und dass Menschen sich nicht innerhalb von vier Wochen, also in der Reisezeit von ihrem Land bis hierher, ändern können. Auch manche Geflüchtete hatten sich andere Vorstellungen gemacht. Einige hatten gedacht, sie kriegen hier eine Wohnung und tausend Euro, das hatte man ihnen im Heimatland erzählt. Die Realität bedeutete aber in einer Massenunterkunft und von geschenkten Sachen zu leben und keine Arbeit zu kriegen. Und das muss alles auch erst einmal verarbeitet werden. Ich erinnere mich an eine Frau, von der ich nicht genau weiß, wo sie herkam. Sie saß auf einem Koffer im Hof, wie versteinert und hat sich nicht gerührt. Sie hatte ein Kopftuch, ein langes, fließendes Gewand und eine Pluderhose bis zu den Knöcheln. Sie wollte niemanden mehr hören, saß da und hat immer nur den Kopf geschüttelt, so dieses Bild habe ich noch vor mir. Da kamen auch die anderen nicht mehr an sie heran. Sie war offensichtlich überfordert mit dem allen und kam mit der Gesamtsituation nicht zurecht.
An mehreren Fronten gleichzeitig Gespräche führen
Ich war öfter bei SaveMe, um zu schauen, wie es sich weiterentwickelt, was man noch vom Gebäude her machen muss. Ich habe zum Beispiel noch mehr Abfalleimer angeschafft, damit die, die warten, ihre Sachen loswerden können, ohne den Innenhof zu vermüllen. Und gleichzeitig habe ich in der Gemeinde dafür geworben, dass sie uns nicht mit Füßen treten, wenn sie ihren Müll in unseren Hof werfen, sondern einfach ihre Lebensweise aus ihren Herkunftsländern mitnehmen und es hier machen wie dort. Das ist also keine Missachtung, sondern die Menschen mussten lernen, dass wir hier Abfalleimer haben. Die Bestückung vom Innenhof oder das Anschaffen von Bänken, wo sich dann die Mütter mit Kindern hinsetzen können und so, das ist alles im Zuge dessen erwachsen und das habe ich dann für die Gemeinde angeschafft, weil es uns allen guttut. Und wir haben uns dann immer wieder zusammengesetzt und geschaut, wo können wir was tun, um die Situation zu entschärfen? Und wo muss man von denen, die hierherkommen und was wollen, verlangen, dass sie sich ein Stück weit an unsere Gepflogenheiten halten? Und das hat dann geklappt. Das Vermüllen vom Innenhof hat aufgehört und zum Schluss hat sich niemand mehr beklagt. Es ging also nicht bloß darum, Kleider oder Sachspenden möglichst gerecht zu verteilen, sondern es war auch ganz viel Sozialarbeit dabei, Menschen auffangen, beruhigen, Menschen ermutigen und eingewöhnen.
Einmal kam unser Hausmeister zu mir, er müsse mit mir reden, so gehe es nicht weiter: „Die Reinigungskraft hat gesagt, dass sie jetzt kündigt wegen diesem Dreck in den Toiletten.“ Dann habe ich nachgeforscht. Ja, in vielen Herkunftsländern ist es oft üblich, sich auf die Toilette zu stellen, das heißt in der Gemeinde sind die Klositze kaputtgegangen, weil sich viele daraufgestellt haben, anstatt sich zu setzen, einfach, weil sie es nicht kannten. Und dann ist es in manchen Ländern üblich, das benutzte Toilettenpapier nicht runterzuspülen, sondern in die für Monatshygiene vorgesehenen Eimer zu werfen. Die Menschen haben es einfach nicht gewusst. Dann haben wir Grafiken entworfen, wie man sich bei uns auf die Toilette setzt usw., haben es uns in verschiedene arabische Dialekte übersetzen lassen und haben die Putzfrau beruhigt. Das musste alles erst einmal vermittelt werden. Das waren so Irritationen und Ärger an kleinen Stellen, die ganz schnell erledigt gehörten, bevor es weiter eskaliert. Es konnte dann auch alles aufgelöst werden, aber dafür hat es Begleitung und Zeit gebraucht.
Dass auch die zu ihrem Recht kommen, die keinen Fürsprecher haben
Und ich hatte auch Sorge, dass aufgrund von Gruppenbildungen innerhalb der Geflüchteten manche marginalisiert werden. Das ist dann wiederum mein diakonisches Empfinden, dass ich mich um die kümmern möchte, die offensichtlich keinen Fürsprecher haben, die aber auch zu ihrem Recht kommen sollen. Ich möchte nicht, dass der Gruppen-Chef, dann fünf Jacken besorgt für seine Kumpels, ich möchte, dass auch die Frauen, die mit ihren Kindern hier sind und niemanden haben, dass sie auch zu ihren warmen Jacken kommen. Aber da hat es mir dann geholfen, dass ich groß und kräftig bin. Auch habe ich beobachtet, dass es zwischen Geflüchteten aus unterschiedlichen Herkunftsländern wenig Kontakte gab. Die Geflüchteten aus afrikanischen Ländern sind unter sich geblieben, sie sind auch in anderen Unterkünften untergebracht. Die Gruppen mischen sich wenig, einmal von der Sprache her und von außen beobachtet nehme ich auch kulturellen Dünkel untereinander war. Ich hätte gedacht, dass man das Gefühl hat, wir sitzen im gleichen Boot, du bist aus Syrien geflüchtet, ich aus dem Kongo, aber in der Realität gibt es eher Neid. Wer ist eher da? Und wer kriegt was? Oder es wird verglichen: Kriegt ihr mehr Aufenthaltstitel als wir? Oder: Ihr seid nur Wirtschaftsflüchtlinge aus dem Maghreb, aber wir sind vor dem Krieg geflüchtet.
Also, die Situation hat nicht dazu geführt, dass Flüchtlinge sich untereinander besser verstehen. Auch jetzt wieder, wo die Ukraineflüchtlinge kommen, ist zu spüren, dass manche den Eindruck haben, es seien Flüchtlinge erster Klasse, die von Anfang an ganz andere Konditionen kriegen, Freifahrt in Bussen und Bahnen und sofort Arbeitserlaubnis und diese Dinge. Es ist ein großes Vergleichen da und wenig Solidarität untereinander. Hier ist eine Blase, und da ist eine Blase. Und es gelingt punktuell an einzelnen Stellen, dass sich die Menschen auch zusammensetzen. Aber es sind zu viele Ängste da, zu wenig Ressourcen für zu viele Leute und dann muss jeder schauen, wo er bleibt. Ich habe auch mitbekommen, dass dadurch, dass jetzt die ukrainischen Geflüchteten Bus und Bahn-Gutscheine bekommen oder nach Vorzeigen ihres Ausweises, ohne Fahrschein fahren dürfen, dass jetzt Anstrengungen gemacht werden sollen, diese Rechte auch für andere Geflüchtete auszuweiten. Und dass nicht nur Geflüchtete selber, sondern auch Mitarbeitende (z.B. bei den Stadtwerken), dies als eine Benachteiligung sehen. Das ist wohl 2015/16 auch schon versucht worden, aber nicht durchgekommen. Das hat auch bei denjenigen negative Gefühle erzeugt, die als Mitarbeiter dabei sind und sich einsetzen für die Menschen, die sie begleiten.
Unbehagen bei denjenigen, die früher nach Deutschland eingewandert sind
In der chaotischen Anfangszeit, als wir bitterböse Vorwurfsbriefe erhielten, von Menschen, die erreichen wollten, dass wir das sofort wieder bleiben lassen, habe ich mit denen das Gespräch gesucht und festgestellt, dass das überwiegend Familien mit Migrationsgeschichte waren, die vor zehn, zwanzig Jahren gekommen sind. Sie hatten den Vorwurf mit sich getragen: „Wir sind damals angekommen und hatten es so schwer. Und jetzt kommen die dahergelaufen und kriegen alles vorne und hinten reingesteckt. Uns hat man keine Kleiderspenden gegeben, uns hat man nicht willkommen geheißen.“ Es waren gar nicht unbedingt die gut etablierten deutschen Familien, die Angst hatten. Und da habe ich erst einmal schlucken müssen, um zu verstehen, dass bei denen vermutlich Altes wieder hochkommt und dass sie vergleichen, wie ging es ihnen damals und wie ist es heute. Und dass sie keine Freude daran haben, dass es Menschen in ihrer Situation heute besser geht, sondern dass sie heute noch darunter leiden, dass sie damals nicht das hatten, was die anderen heute haben. Selbst wenn es ihnen heute besser geht, kommt das Erleben von damals wieder hoch und führt noch nachträglich zu Neidgefühlen. Das ist eine sehr vielschichtige Sache.
Es hätte mehr Berührungspunkte geben können
Ich habe immer dafür geworben, dass man nicht in den Gottesdienst gehen muss, ich möchte niemanden zwangsweise in die christliche Gemeinde bringen, aber willkommen zu sein, dazukommen, einfach Kontakt suchen und die frisch erworbenen Deutschkenntnisse anwenden und mit Händen und Füßen reden, das schon.
Wenn Menschen dann tatsächlich den Mut haben, z.B. als Muslime, in den Gottesdienst zu kommen, einfach um zu sehen, wie wir das machen oder weil sie jemanden kennen, finde ich das stark. Mit meinem Ältestenkreis habe ich darüber geredet, was es bedeutet, einladende Gemeinde sein zu wollen. Das heißt, dass man im Gottesdienst nicht einen Bogen um jemanden macht, der neu ist, sondern die Person anspricht: „Ach, Sie kennen sich vielleicht noch nicht aus. Hier sind die Gesangbücher und da können sie sich setzen. Und im Anschluss findet dort das Kirchencafé statt“ – also einfach jemanden abholen. Es war eine Zeit lang eine Mutter aus einem afrikanischen Land da, mit zwei kleinen Kindern. Sie hat ihre kleinen Kinder eben rennen lassen, die haben geschrien und Sachen durch die Gegend geschmissen und ja, das ist nicht schön, wenn ich dann predige. Aber das ist erstmal kulturell bedingt, dann müsste man mit der Frau einfach reden und erklären. Es ist schade, dass immer, wenn etwas fremd ist, viele dann schnell sagen „Können wir nicht brauchen“. Das verbaut so viel und da hätte ich mir schon gewünscht, dass, wenn Geflüchtete oder erstmalig Da-Seiende, den Mut gehabt haben zu kommen, dass man sich dann kümmert, dass man auf sie zugeht und sie anspricht. Und diese Fähigkeit, von sich aus andere anzusprechen, haben nicht viele oder trauen es sich nicht. Das ist nicht altersabhängig. Aus unserer Kerngemeinde hat sich ein Ehepaar, beide über 80, das getraut. Die sind Kriegsgeneration, haben nur ganz wenig Englisch gelernt, und sie haben dann mit Händen und Füßen kommuniziert, und das ging. Dass man als Gruppe durchlässiger wird, ist schwer. Aber wenn man weiß, es sind jetzt Geflüchtete da, dass man sich für deren Lebenslauf interessiert, und dass man mit denen ins Gespräch kommt, das ist nur in Ansätzen passiert. Ich habe mich dann manchmal dazugesetzt und jemandem eingeladen, dazu zu kommen und dann geschaut, dass das Gespräch in Gang kommt. Aber das kann ich auch nicht immer machen.
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