Für KOMME e.V. ist die interkulturelle Begegnungsarbeit in den letzten zehn Jahren immer wichtiger geworden

Ende der 1960er Jahre entstand der größte Jenaer Stadtteil Neulobeda als Wohngebiet im Plattenbaustil. Heute leben in Lobeda über 22.000 Menschen, viele mit Migrationsgeschichte, insbesondere seit 2015/16. Im Interview schildert die Erzählerin wie der Verein KOMME e.V. in der Nachwendezeit seine medienpädagogische und soziokulturelle Arbeit für die Bewohner*innen des Quartiers startete, wie weitere Arbeitsbereiche über die Jahre hinzukamen und insbesondere die interkulturelle Begegnungsarbeit immer wichtiger wurde.

Ort und Datum des Interviews: Jena, 27.08.2021

Neuanfang in einer leerstehenden Galerie in einem Plattenbauviertel

Ausgangspunkt der Vereinsgründung war die Idee, medienpädagogische Angebote hier im Stadtteil Jena-Lobeda nach den Veränderungen durch die Wende zu etablieren. Die damaligen Initiatoren, die teilweise aus einem ABM-geförderten Medienprojekt kamen, setzten auf Theater- und Kinoarbeit mit Kindern und Jugendlichen, mit Kindertagesstätten und Schulen. Parallel dazu stand hier im Stadtteil seit der Wende ein Gebäude leer, in dem früher mal eine Galerie war. Es entstand die Idee, es als soziokulturelles Zentrum in Verbindung mit dem medienpädagogischen Projekt aufzubauen: So wurde der Verein KOMME e.V. – Kommunikation und Medien e.V. – gegründet, als Kinderkino und soziokulturelles Zentrum. Andere Projekte kamen mit der Zeit hinzu. 1998 übernahm KOMME e.V. außerdem die Trägerschaft für das Stadtteilbüro-Quartiersmanagement. Die damaligen medienpädagogischen Angebote haben Familien, Kinder, Jugendliche, Schulklassen und Projektgruppen und ebenso Ältere wahrgenommen. Auch wurde das Kinder- und Jugendzentrum Klex als Standort unseres Vereins aufgebaut. Es gab ganz viele Veranstaltungsformate, Projekte, Ausstellungen, die sehr gut besucht waren: von Ausstellungen über Kabarett-Kleinkunstreihen bis hin zu kleinen Tanzabenden oder so informelle Runden, Skat-Treffs, Spielenachmittage. Die Vereinsarbeit hat sich sehr stark über die spezielle Ausrichtung in den verschiedenen Projekten aufgebaut. Später haben wir auch Schulsozialarbeit übernommen, die in den letzten Jahren als Schwerpunkt immer mehr verstärkt worden ist. Jena ist in diesem Bereich Vorreiter gewesen. Von ursprünglich zwei Mitarbeitern haben wir inzwischen neun Mitarbeiter in der Schulsozialarbeit an vier Schulen in Lobeda. 

Grundlegende Verunsicherung in den 1990er Jahren

Nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung gab es in den 1990er/2000er Jahren eine grundlegende Verunsicherung bei vielen Bevölkerungsgruppen hier im Stadtteil: Was wird jetzt aus den Familien? Wo findet man Arbeit? Und junge Menschen haben das natürlich miterlebt und manche waren dann gut ansprechbar für rechte Tendenzen. Rückwirkend wissen wir auch, dass Jugendliche mit rechtsextremem Gedankengut, ein bisschen älter als 14, 16 Jahre, versucht haben, Fuß in Jenaer Jugendzentren zu fassen. Aber das ist ihnen nicht so gelungen und sie sind dann eher nach Winzerla abgewandert. Außerdem gab es in Lobeda Altstadt das sogenannte braune Haus, das auf den ersten Blick mit politisch neutralen Angeboten, wie Computerkabinett oder Band-Proberaum, versucht hat, Jugendliche dorthin zu ziehen. Dort fanden dann politische Schulungsveranstaltungen statt. Aus Erzählungen der damaligen Sozialarbeiter wissen wir außerdem, dass es Ende der 1990er/Beginn 2000er Jahre hier im Stadtteil offene Auseinandersetzungen zwischen Jugendgruppen gegeben hat, also zwischen sehr rechtsorientierten Jugendlichen und dann zum Beispiel der großen Gruppe der russischsprachigen Zuwanderer.

Die ersten Einwanderer kamen aus der ehemaligen Sowjetunion

Die Zuwanderung in den Stadtteil hat langsam begonnen und hat Lobeda stark verändert. Über die Jahre kamen insbesondere russischsprachige Spätaussiedler, Kontingentflüchtlinge, Asylbewerber ins Viertel – für die Bevölkerung spielt das ja keine Rolle, nach welchem Paragraphen jemand einreist, obwohl es sehr unterschiedliche Voraussetzungen gibt. Das sind alles Menschen, die hier seit Ende der 1990er Jahre eine neue Heimat gefunden haben, die auch immer noch als Gruppe, vor allem aufgrund der gemeinsamen russischen Sprache deutlich wahrgenommen werden. Und das kann man bis heute an verschiedenen Orten noch nachvollziehen: Es gibt Spielplätze, auf denen hauptsächlich die russischsprachigen Familien mit ihren Kindern anzutreffen sind. Und sie sind mit ihren Vereinen hier im Stadtteil sichtbar, wie den MIG e.V. – multikulturelle Integrationsgruppe –, der mit vielfältigen künstlerisch-musischen Angeboten für Kinder und Erwachsene hier seit Jahren erfolgreich im Stadtteil arbeitet. Damals kamen diese Familien mit Kindern und Jugendlichen hierher und haben sich niedergelassen. Der günstige Wohnraum hat dazu beigetragen. Die Willkommenskultur war natürlich eine andere, sie war eigentlich nicht vorhanden. Viele sind hier mehr oder weniger ins kalte Wasser geworfen worden, obgleich die soziale Absicherung mit Sozialhilfe, später dann mit Hartz IV und die Finanzierung der Wohnung, die nötige Grundsicherung gegeben war.

Bei Veranstaltungen im KuBuS wird die Vielfalt des Stadtteils sichtbar

2009 gründeten wir das multifunktionale Zentrum für Kulturbegegnung und Sport – KuBuS –, in einem Gebäude, in dem früher ein Jugendclub untergebracht war. Dies geschah als Modellvorhaben im Rahmen des Programms Soziale Stadt. Damit hatte die Bundesregierung nicht nur die Baugestaltung im Blick, sondern gleichzeitig auch die personelle Betreibung von Einrichtungen finanziert. Und so wurde einerseits der Umbau des alten Gebäudes möglich, und andererseits konnten wir fünf Jahre lang auch Personal über das Programm Soziale Stadt finanzieren. Nach Ablauf der Bundesförderung hat die Stadt übernommen und trägt bis heute die Personalkosten. Die Einrichtung hat eine unheimliche Akzeptanz im Stadtteil erreicht, die dortigen Angebote erreichen ganz unterschiedliche Zielgruppen. Im KuBuS gibt es regelmäßige Sportangebote für unterschiedlichste Altersgruppen. Und er hat sehr schöne stadtteilweite Veranstaltungen ins Leben gerufen: ein Osterfest, einen offenen Tag in der Weihnachtszeit, Kinderakademie, es gibt ein monatliches Sternstundenkino, und er ist immer offen gewesen für den interkulturellen Part in der soziokulturellen Arbeit. Wir haben dort schon vor Jahren über das Bundesprogramm Aktion Mensch Filmreihen organsiert, die hießen Übermut, Übermacht, mit Diskussionsveranstaltungen mit den Regisseuren im Anschluss. Oder eine gegenwärtige Reihe nennt sich Starke Rollen. Sie ist mit der Gleichstellungsbeauftragten ins Leben gerufen worden, und dort geht es um Frauen im Film entweder als Regisseurin oder als Protagonistin oder als Frauen, die in unterschiedlichsten Kontexten Diskriminierung, Verfolgung ausgesetzt sind.

Ein offener interkultureller Stadtteil? Nicht alle sehen das so.

Schon vor 2015 kamen einige arabische, syrische Familie in den Stadtteil. Sie waren in einem der beiden Gemeinschaftsunterkünfte, einem Container-Standort, untergebracht. Ihre Präsenz fiel damals nicht auf, weil es ganz kleine Zahlen waren. Dieser Standort beherbergt heute Obdachlose und verfügt über eine spezielle Unterkunft für Frauen und Kinder. Über die Hälfte der heutigen Bewohner haben einen syrischen Hintergrund, weil sie in Jena bisher keinen geeigneten Wohnraum gefunden haben. Die Stadt weiß, dass viele Zugewanderte in Lobeda wohnen, wegen der günstigen Mieten. Sehr zeitig, also schon vor 2015 haben die Integrationsbeauftragte, das Sozialamt und die Sozialplanung darauf geschaut, dass die Neuankommenden auf die ganze Stadt verteilt werden. Nichtsdestotrotz sind natürlich viele nach Lobeda gezogen, weil die städtische Wohnungsgesellschaft hier viele Kapazitäten hat. Es ist ein Balanceakt, auf der einen Seite die Familien unterzubringen und auf der anderen Seite zu schauen, dass die Durchmischung nicht überstrapaziert wird. Im Stadtteil gibt es, aus meiner Sicht, einen Großteil der Einwohner, der das irgendwie registriert, liest, sieht, im Stadtbild wahrnimmt, aber sich wenig äußert, ob er das gut oder schlecht findet. Aber es gibt eine überschaubare kleine Gruppe von Leuten, die ihre Vorbehalte, teilweise rechtsextreme Parolen, sehr stark zum Ausdruck bringt und auch entsprechende Podien nutzt, um das zu kommunizieren. Das wurde immer dann deutlich, wenn es um den Bau einer Gemeinschaftsunterkunft ging.

Zahllose kleine Bausteine, um das Ankommen zu erleichtern

2015 überlegten wir sehr zeitig gemeinsam mit dem Fachdienst Soziales, an welchen Stellen wir das Ankommen Geflüchteter durch Angebote unterstützen können, z.B. durch Teestunden in der Lobedaer Gemeinschaftsunterkunft. Ich erinnere mich noch an die eine Container-Unterkunft: Da waren vielleicht acht Familien untergebracht mit mehreren Kindern und wir haben mit ihnen in so einem Mini-Raum gemeinsam Tee getrunken und etwas zur Osterzeit gebastelt. Dieses Dicht-Beieinander-Sitzen und miteinander reden, mit den Familien, die sonst abgeschottet waren in dieser Unterkunft und dann diese Öffnung erlebt haben, das war etwas Besonderes. Es gab ganz viele solcher kleinen Bausteine, mit denen wir, zusammen mit anderen Akteuren (wie der Kindersprachbrücke oder der Bürgerstiftung) versucht haben, das Ankommen, das insbesondere für Familien so belastende Leben in solchen Gemeinschaftsunterkünften und alles, was damit zusammenhängt, zu erleichtern. Die Aktivitäten wurden von den Familien mit großer Freundlichkeit und Offenheit angenommen. Wenn eine Teestunde in einer Unterkunft veranstaltet wurde, dann gab es immer Familien, die dafür gekocht und gebacken haben. Über den Lobedaer Flüchtlingsfreundeskreis haben wir eine Publikation erstellt, um über Porträtfotografien und Auszüge aus Interviews den neuen Nachbarn eine Stimme zu geben. Warum kommen die Leute nach Deutschland und nach Jena? Wie ergeht es Ihnen hier? Wir hatten vor vielen Jahren ein Vorläuferprojekt, in dem Menschen mit Migrationsgeschichte, die schon lange in Jena sind, vorgestellt worden. Dabei ging es nicht nur um das Endprodukt, sondern auch um den Entstehungsprozess, das Erlernen von Interview- und Fototechniken. Und daran haben wir 2015 wieder angeknüpft.

Das war eine unheimlich intensive Zeit, in der ganz viel entstanden ist

All das, Teestunden, Bastelangebote, die Ausrichtung gemeinsamer Feste, war nur dank des ehrenamtlichen Engagements möglich. Es war diese Kombination aus professioneller und ehrenamtlicher Arbeit. Kirchgemeinden waren in diesem Zusammenhang ganz wichtige Partner. Wir haben uns unkompliziert zusammengefunden für viele schöne Aktionen, wie das Zuckertüten-Projekt, ein Benefizkonzert: Klar, das hat unendlich viel Zeit gekostet in der Vorbereitung. Aber indem sich die Leute ehrenamtlich eingebracht haben, haben sie vieles mitgenommen und gesehen, was man bewirken kann. Und deshalb hat es auch funktioniert, weil Menschen in dem Moment, wo sie sich engagieren, auch etwas für sich mitnehmen. In diesem Zusammenhang habe ich unterschiedliche Phasen erlebt: Man kann eine Zeitlang viel rein investieren und dann viele Dinge bewegen. Aber das ist immer nur eine begrenzte Zeit lang leistbar, das ist doch klar. Und dann kommt es auch zu Abbrüchen. Wenn engagierte Studenten die Stadt wechseln oder andere, sich wieder auf ihren Beruf usw. konzentrieren müssen und nicht mehr so zur Verfügung stehen, dann entsteht eine Lücke, die nur schwer zu füllen ist.

Was kulturelle Vielfalt in Jena bedeutet

Im KuBuS haben wir mit der Gruppe der Neu-Zugewanderten viele Veranstaltungsformate ausprobiert: von selbstgestalteten deutsch-arabischen Begegnungsabenden, über Sportkurse, die sich gezielt an syrische Frauen richteten, bis hin zu Veranstaltungen, in denen geflüchtete Frauen einen eignen Kulturabend organisieren. Es ging darum, gemeinsam und vor allen Dingen dem Rest der Bevölkerung zeigen, was kulturelle Vielfalt in Lobeda bedeutet.

Die städtische Integrationsbeauftragte und der Integrationsmanager hatten ein mobiles Kochprojekt mit dem Namen Kitchen on the run nach Lobeda gebracht, ein Küchencontainer der dann im KuBuS stand und in dem gemeinsam im Stadtteil gekocht und gegessen wurde. Wir organisierten interkulturelle Frauenabende, teilweise gemeinsam mit der AWO. Ein persönliches Highlight war für mich dieser erste selbstorganisierte Kulturabend 2016/17 im KuBuS. Das war alles auch etwas chaotisch z.B. schon die Frage, wie man den Eintritt regelt, es gab ja nicht Platz für alle. Es war jedenfalls rammelvoll. Wir hatten ein kleines Kulturprogramm organisiert, von einem Kinderauftritt, über gemeinsames Trommeln bis hin zum interkulturellen Buffet. Mit allen Beteiligten haben wir vorher in mehreren Runden zusammengesessen und überlegt, was wir wie organisieren wollen. Und das war durchaus ungewöhnlich für alle Beteiligten. Die Geflüchteten haben sich auf unsere deutsche Mentalität mit mehreren Vorbereitungstreffen eingelassen. Und wir haben kleine Verabredungen getroffen, wer kümmert sich um was usw., auch wenn zum Schluss manches dann auch wieder bei uns Hauptamtlichen hängen geblieben ist. Aber insgesamt war die Veranstaltung sehr gelungen, wenngleich auch ein herrliches lautes Durcheinander.

Das muss immer wieder neu eingeübt werden

Aufgrund dieser ersten niedrigschwelligen Angebote in der Anfangszeit 2015/16 im Klex, sind die Eltern meist mit den Kindern auch später in das Kinder- und Jugendzentrum gegangen. Das Klex hat als Einrichtung in der Arbeit mit zugewanderten Familien viel geleistet. Sie sind raus-, in die Unterkünfte gegangen, sie haben Aktionen im Stadtteil organisiert, haben vor Ort immer wieder geguckt, wie sie einen guten Weg finden. Hauptnutzergruppe im Klex waren vor allem einheimische sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche, Familien in prekären Lebenssituationen. Und im Klex hat dann dieses Aufeinanderprallen der Kulturen stattgefunden. Alteingesessene Familien haben Dinge gesagt wie: „Ihr steckt denen alles zu und die werden bevorzugt behandelt.“ Das Team hatte von Anfang an im Blick, dass es einen Ausgleich geben muss und haben klar gemacht, dass die zugewanderten Familien, die jetzt bei uns im Stadtteil leben, genauso Familien sind wie die, die schon lange hier sind. Und das ist auch gelungen, aber es muss im Alltag immer wieder neu geübt werden. Über das Kochprojekt kitchen on the run, haben wir im Klex ein festes Angebot als Kitchen in the Klex etabliert. Das sind monatliche Kochabende. Zu Corona-Zeiten haben sie sich sogar online verabredet und gekocht. Bis heute wird jedenfalls gemeinsam gekocht. Es gibt einen festen Stamm von vorrangig syrischen Familien, die sich engagieren und es kommen immer neue Leute dazu, auch Studenten oder junge Leute aus ganz anderen Ländern.

Der Stadtteil ist seit 2015/16 bunter geworden

Mit den Zugewanderten ist der Stadtteil bunter geworden, der Alltag der zugewanderten Familien spielt sich mehr im öffentlichen Raum ab. Sie haben teilweise die gleichen Sorgen und Probleme wie alle anderen auch, obgleich man unterscheiden muss, welche Gruppe man im Blick hat: Familien aus Afghanistan oder aus Syrien haben nicht dieselben Rechte. Da geht es um die Kinder, um Schule, um Kita, um Ausbildung, um Anerkennung von Abschlüssen, um Spracherwerb. Ein ganz großes Thema für die Zugewanderten sind Familiennachzüge. Alle haben immer noch große Teile der Familie im Herkunftsland. Wir kennen inzwischen Frauen, die die Sprache ziemlich gut beherrschen, aber es gibt auch eine ganze Reihe von Zugewanderten mit sehr geringen Sprachkenntnissen. Die Rückbesinnung auf die eigene Community ist relativ groß. Das ist genau genommen nicht viel anders als bei den russischsprachigen Zugewanderten, und das wird dann auch im Stadtteil wahrgenommen. Ja und für den Osten, der keine Erfahrung mit Zugewanderten hat, ist diese Situation bis heute eher neu.

Internetlinks:

Links:

https://www.jenalobeda.de/komme.html

KuBuS - Zentrum für Kultur, Begegnung und Sport (kubusjena.de)

https://klex-jena.de